Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Polyphyletische Descendenzhypothese des Protistenreichs.
welche alle neben und unabhängig von einander aus dem gemein-
samen Boden der Urzeugung aufschießen. Es würden dann zahlreiche
verschiedene Moneren durch Urzeugung entstanden sein, deren Unter-
schiede nur in geringen, für uns nicht erkennbaren Differenzen ihrer
chemischen Zusammensetzung und in Folge dessen auch ihrer Entwicke-
lungsfähigkeit beruhen. Eine geringe Anzahl von diesen Moneren
würde den verschiedenen Hauptklassen des Pflanzenreichs, und ebenso
andrerseits eine geringe Anzahl den Hauptklassen des Thierreichs den
Ursprung gegeben haben. Zwischen beiden Gruppen von Haupt-
klassen aber würde sich, unabhängig von diesen wie von jenen, eine
größere Anzahl von selbstständigen Stämmen entwickelt haben, die auf
einer tieferen Organisationsstufe stehen blieben, und sich weder zu ech-
ten Pflanzen, noch zu echten Thieren entwickelten. Selbst wenn man
einen ganz selbstständigen Stamm für das Pflanzenreich, einen zwei-
ten für das Thierreich annähme, würde man zwischen beiden noch
eine größere Anzahl von selbstständigen Protistenstämmen annehmen
können, deren jeder ganz unabhängig von jenen aus einer eigenen
archigonen Monerenform sich entwickelt hat. Um sich dieses Verhält-
niß lebendig vorzustellen, werfen Sie einen Blick auf das nachstehende
Schema (S. 347), oder stellen Sie sich die ganze Organismenwelt
als eine ungeheure Wiese vor, welche größtentheils verdorrt ist, und
auf welcher zwei vielverzweigte mächtige Bäume stehen, die ebenfalls
größtentheils abgestorben sind. Diese letzteren mögen Jhnen das Thier-
reich und das Pflanzenreich vorstellen, ihre frischen noch grünenden
Zweige die lebenden Thiere und Pflanzen, die verdorrten Zweige mit
welkem Laub dagegen die ausgestorbenen Gruppen. Das dürre Gras
der Wiese entspricht den wahrscheinlich zahlreichen, ausgestorbenen
Protistenstämmen, die wenigen noch grünen Halme dagegen den jetzt
noch lebenden.

Für die Annahme, daß wiederholt zu verschiedenen Zeiten Mo-
neren durch Urzeugung entstanden sind, spricht vor Allem die Existenz
der gegenwärtig noch lebenden Moneren, die ich Jhnen schon früher
geschildert habe. Offenbar legen uns diese die Vermuthung sehr nahe,

Polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe des Protiſtenreichs.
welche alle neben und unabhaͤngig von einander aus dem gemein-
ſamen Boden der Urzeugung aufſchießen. Es wuͤrden dann zahlreiche
verſchiedene Moneren durch Urzeugung entſtanden ſein, deren Unter-
ſchiede nur in geringen, fuͤr uns nicht erkennbaren Differenzen ihrer
chemiſchen Zuſammenſetzung und in Folge deſſen auch ihrer Entwicke-
lungsfaͤhigkeit beruhen. Eine geringe Anzahl von dieſen Moneren
wuͤrde den verſchiedenen Hauptklaſſen des Pflanzenreichs, und ebenſo
andrerſeits eine geringe Anzahl den Hauptklaſſen des Thierreichs den
Urſprung gegeben haben. Zwiſchen beiden Gruppen von Haupt-
klaſſen aber wuͤrde ſich, unabhaͤngig von dieſen wie von jenen, eine
groͤßere Anzahl von ſelbſtſtaͤndigen Staͤmmen entwickelt haben, die auf
einer tieferen Organiſationsſtufe ſtehen blieben, und ſich weder zu ech-
ten Pflanzen, noch zu echten Thieren entwickelten. Selbſt wenn man
einen ganz ſelbſtſtaͤndigen Stamm fuͤr das Pflanzenreich, einen zwei-
ten fuͤr das Thierreich annaͤhme, wuͤrde man zwiſchen beiden noch
eine groͤßere Anzahl von ſelbſtſtaͤndigen Protiſtenſtaͤmmen annehmen
koͤnnen, deren jeder ganz unabhaͤngig von jenen aus einer eigenen
archigonen Monerenform ſich entwickelt hat. Um ſich dieſes Verhaͤlt-
niß lebendig vorzuſtellen, werfen Sie einen Blick auf das nachſtehende
Schema (S. 347), oder ſtellen Sie ſich die ganze Organismenwelt
als eine ungeheure Wieſe vor, welche groͤßtentheils verdorrt iſt, und
auf welcher zwei vielverzweigte maͤchtige Baͤume ſtehen, die ebenfalls
groͤßtentheils abgeſtorben ſind. Dieſe letzteren moͤgen Jhnen das Thier-
reich und das Pflanzenreich vorſtellen, ihre friſchen noch gruͤnenden
Zweige die lebenden Thiere und Pflanzen, die verdorrten Zweige mit
welkem Laub dagegen die ausgeſtorbenen Gruppen. Das duͤrre Gras
der Wieſe entſpricht den wahrſcheinlich zahlreichen, ausgeſtorbenen
Protiſtenſtaͤmmen, die wenigen noch gruͤnen Halme dagegen den jetzt
noch lebenden.

Fuͤr die Annahme, daß wiederholt zu verſchiedenen Zeiten Mo-
neren durch Urzeugung entſtanden ſind, ſpricht vor Allem die Exiſtenz
der gegenwaͤrtig noch lebenden Moneren, die ich Jhnen ſchon fruͤher
geſchildert habe. Offenbar legen uns dieſe die Vermuthung ſehr nahe,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0370" n="345"/><fw place="top" type="header">Polyphyleti&#x017F;che De&#x017F;cendenzhypothe&#x017F;e des Proti&#x017F;tenreichs.</fw><lb/>
welche alle neben und unabha&#x0364;ngig von einander aus dem gemein-<lb/>
&#x017F;amen Boden der Urzeugung auf&#x017F;chießen. Es wu&#x0364;rden dann zahlreiche<lb/>
ver&#x017F;chiedene Moneren durch Urzeugung ent&#x017F;tanden &#x017F;ein, deren Unter-<lb/>
&#x017F;chiede nur in geringen, fu&#x0364;r uns nicht erkennbaren Differenzen ihrer<lb/>
chemi&#x017F;chen Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung und in Folge de&#x017F;&#x017F;en auch ihrer Entwicke-<lb/>
lungsfa&#x0364;higkeit beruhen. Eine geringe Anzahl von die&#x017F;en Moneren<lb/>
wu&#x0364;rde den ver&#x017F;chiedenen Hauptkla&#x017F;&#x017F;en des Pflanzenreichs, und eben&#x017F;o<lb/>
andrer&#x017F;eits eine geringe Anzahl den Hauptkla&#x017F;&#x017F;en des Thierreichs den<lb/>
Ur&#x017F;prung gegeben haben. Zwi&#x017F;chen beiden Gruppen von Haupt-<lb/>
kla&#x017F;&#x017F;en aber wu&#x0364;rde &#x017F;ich, unabha&#x0364;ngig von die&#x017F;en wie von jenen, eine<lb/>
gro&#x0364;ßere Anzahl von &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigen Sta&#x0364;mmen entwickelt haben, die auf<lb/>
einer tieferen Organi&#x017F;ations&#x017F;tufe &#x017F;tehen blieben, und &#x017F;ich weder zu ech-<lb/>
ten Pflanzen, noch zu echten Thieren entwickelten. Selb&#x017F;t wenn man<lb/>
einen ganz &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigen Stamm fu&#x0364;r das Pflanzenreich, einen zwei-<lb/>
ten fu&#x0364;r das Thierreich anna&#x0364;hme, wu&#x0364;rde man zwi&#x017F;chen beiden noch<lb/>
eine gro&#x0364;ßere Anzahl von &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigen Proti&#x017F;ten&#x017F;ta&#x0364;mmen annehmen<lb/>
ko&#x0364;nnen, deren jeder ganz unabha&#x0364;ngig von jenen aus einer eigenen<lb/>
archigonen Monerenform &#x017F;ich entwickelt hat. Um &#x017F;ich die&#x017F;es Verha&#x0364;lt-<lb/>
niß lebendig vorzu&#x017F;tellen, werfen Sie einen Blick auf das nach&#x017F;tehende<lb/>
Schema (S. 347), oder &#x017F;tellen Sie &#x017F;ich die ganze Organismenwelt<lb/>
als eine ungeheure Wie&#x017F;e vor, welche gro&#x0364;ßtentheils verdorrt i&#x017F;t, und<lb/>
auf welcher zwei vielverzweigte ma&#x0364;chtige Ba&#x0364;ume &#x017F;tehen, die ebenfalls<lb/>
gro&#x0364;ßtentheils abge&#x017F;torben &#x017F;ind. Die&#x017F;e letzteren mo&#x0364;gen Jhnen das Thier-<lb/>
reich und das Pflanzenreich vor&#x017F;tellen, ihre fri&#x017F;chen noch gru&#x0364;nenden<lb/>
Zweige die lebenden Thiere und Pflanzen, die verdorrten Zweige mit<lb/>
welkem Laub dagegen die ausge&#x017F;torbenen Gruppen. Das du&#x0364;rre Gras<lb/>
der Wie&#x017F;e ent&#x017F;pricht den wahr&#x017F;cheinlich zahlreichen, ausge&#x017F;torbenen<lb/>
Proti&#x017F;ten&#x017F;ta&#x0364;mmen, die wenigen noch gru&#x0364;nen Halme dagegen den jetzt<lb/>
noch lebenden.</p><lb/>
        <p>Fu&#x0364;r die Annahme, daß wiederholt zu ver&#x017F;chiedenen Zeiten Mo-<lb/>
neren durch Urzeugung ent&#x017F;tanden &#x017F;ind, &#x017F;pricht vor Allem die Exi&#x017F;tenz<lb/>
der gegenwa&#x0364;rtig noch lebenden Moneren, die ich Jhnen &#x017F;chon fru&#x0364;her<lb/>
ge&#x017F;childert habe. Offenbar legen uns die&#x017F;e die Vermuthung &#x017F;ehr nahe,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[345/0370] Polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe des Protiſtenreichs. welche alle neben und unabhaͤngig von einander aus dem gemein- ſamen Boden der Urzeugung aufſchießen. Es wuͤrden dann zahlreiche verſchiedene Moneren durch Urzeugung entſtanden ſein, deren Unter- ſchiede nur in geringen, fuͤr uns nicht erkennbaren Differenzen ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung und in Folge deſſen auch ihrer Entwicke- lungsfaͤhigkeit beruhen. Eine geringe Anzahl von dieſen Moneren wuͤrde den verſchiedenen Hauptklaſſen des Pflanzenreichs, und ebenſo andrerſeits eine geringe Anzahl den Hauptklaſſen des Thierreichs den Urſprung gegeben haben. Zwiſchen beiden Gruppen von Haupt- klaſſen aber wuͤrde ſich, unabhaͤngig von dieſen wie von jenen, eine groͤßere Anzahl von ſelbſtſtaͤndigen Staͤmmen entwickelt haben, die auf einer tieferen Organiſationsſtufe ſtehen blieben, und ſich weder zu ech- ten Pflanzen, noch zu echten Thieren entwickelten. Selbſt wenn man einen ganz ſelbſtſtaͤndigen Stamm fuͤr das Pflanzenreich, einen zwei- ten fuͤr das Thierreich annaͤhme, wuͤrde man zwiſchen beiden noch eine groͤßere Anzahl von ſelbſtſtaͤndigen Protiſtenſtaͤmmen annehmen koͤnnen, deren jeder ganz unabhaͤngig von jenen aus einer eigenen archigonen Monerenform ſich entwickelt hat. Um ſich dieſes Verhaͤlt- niß lebendig vorzuſtellen, werfen Sie einen Blick auf das nachſtehende Schema (S. 347), oder ſtellen Sie ſich die ganze Organismenwelt als eine ungeheure Wieſe vor, welche groͤßtentheils verdorrt iſt, und auf welcher zwei vielverzweigte maͤchtige Baͤume ſtehen, die ebenfalls groͤßtentheils abgeſtorben ſind. Dieſe letzteren moͤgen Jhnen das Thier- reich und das Pflanzenreich vorſtellen, ihre friſchen noch gruͤnenden Zweige die lebenden Thiere und Pflanzen, die verdorrten Zweige mit welkem Laub dagegen die ausgeſtorbenen Gruppen. Das duͤrre Gras der Wieſe entſpricht den wahrſcheinlich zahlreichen, ausgeſtorbenen Protiſtenſtaͤmmen, die wenigen noch gruͤnen Halme dagegen den jetzt noch lebenden. Fuͤr die Annahme, daß wiederholt zu verſchiedenen Zeiten Mo- neren durch Urzeugung entſtanden ſind, ſpricht vor Allem die Exiſtenz der gegenwaͤrtig noch lebenden Moneren, die ich Jhnen ſchon fruͤher geſchildert habe. Offenbar legen uns dieſe die Vermuthung ſehr nahe,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/370
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/370>, abgerufen am 25.11.2024.