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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Gegensatz der theoretischen und praktischen Bestimmung des Artbegriffs.
pfungsbericht. Die Grundlage ihrer Speciesauffassung bildete Lin-
ne's
Ausspruch: "Es gibt so viele Arten, als ursprünglich verschie-
dene Formen erschaffen worden sind." Jedoch müssen wir hier, ohne
näher auf die Begriffsbestimmung der Species einzugehen, sogleich
bemerken, daß alle Zoologen und Botaniker in der systematischen
Praxis, bei der praktischen Unterscheidung und Benennung der Thier-
und Pflanzenarten, sich nicht im Geringsten um jene angenommene
Schöpfung ihrer elterlichen Stammformen kümmerten, und auch wirk-
lich nicht kümmern konnten. Denn natürlich waren sie niemals in der
Lage, die Abstammung aller zu einer Art gehörigen Jndividuen von
jener gemeinsamen, ursprünglich erschaffenen Stammform der Art
nachweisen zu können. Vielmehr bedienten sich sowohl die Zoologen
als die Botaniker in ihrer systematischen Praxis ausschließlich der Form-
ähnlichkeit, um die verschiedenen Arten zu unterscheiden und zu benen-
nen. Sie stellten in eine Art oder Species alle organischen Einzel-
wesen, die einander in der Formbildung sehr ähnlich oder fast gleich
waren, und die sich nur durch sehr unbedeutende Formunterschiede
von einander trennen ließen. Dagegen betrachteten sie als verschie-
dene Arten diejenigen Jndividuen, welche wesentlichere oder auffallen-
dere Unterschiede in ihrer Körpergestaltung darboten. Natürlich war
aber damit der größten Willkür in der systematischen Artunterschei-
dung Thür und Thor geöffnet. Denn da niemals alle Jndividuen ei-
ner Species in allen Stücken völlig gleich sind, vielmehr jede Art
mehr oder weniger abändert (variirt), so vermochte Niemand zu sa-
gen, welcher Grad der Abänderung eine wirkliche "gute Art", welcher
Grad bloß eine Spielart oder Rasse (Varietät) bezeichne.

Nothwendig mußte diese dogmatische Auffassung des Speciesbe-
griffs und die damit verbundene Willkür zu den unlösbarsten Wi-
dersprüchen und zu den unhaltbarsten Annahmen führen. Dies zeigt
sich deutlich schon bei demjenigen Naturforscher, welcher nächst Linne
den größten Einfluß auf die Ausbildung der Thierkunde gewann,
bei dem berühmten Cuvier (geb. 1769). Er schloß sich in seiner
Auffassung und Bestimmung des Speciesbegriffs im Ganzen an Linne

Gegenſatz der theoretiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs.
pfungsbericht. Die Grundlage ihrer Speciesauffaſſung bildete Lin-
né’s
Ausſpruch: „Es gibt ſo viele Arten, als urſpruͤnglich verſchie-
dene Formen erſchaffen worden ſind.“ Jedoch muͤſſen wir hier, ohne
naͤher auf die Begriffsbeſtimmung der Species einzugehen, ſogleich
bemerken, daß alle Zoologen und Botaniker in der ſyſtematiſchen
Praxis, bei der praktiſchen Unterſcheidung und Benennung der Thier-
und Pflanzenarten, ſich nicht im Geringſten um jene angenommene
Schoͤpfung ihrer elterlichen Stammformen kuͤmmerten, und auch wirk-
lich nicht kuͤmmern konnten. Denn natuͤrlich waren ſie niemals in der
Lage, die Abſtammung aller zu einer Art gehoͤrigen Jndividuen von
jener gemeinſamen, urſpruͤnglich erſchaffenen Stammform der Art
nachweiſen zu koͤnnen. Vielmehr bedienten ſich ſowohl die Zoologen
als die Botaniker in ihrer ſyſtematiſchen Praxis ausſchließlich der Form-
aͤhnlichkeit, um die verſchiedenen Arten zu unterſcheiden und zu benen-
nen. Sie ſtellten in eine Art oder Species alle organiſchen Einzel-
weſen, die einander in der Formbildung ſehr aͤhnlich oder faſt gleich
waren, und die ſich nur durch ſehr unbedeutende Formunterſchiede
von einander trennen ließen. Dagegen betrachteten ſie als verſchie-
dene Arten diejenigen Jndividuen, welche weſentlichere oder auffallen-
dere Unterſchiede in ihrer Koͤrpergeſtaltung darboten. Natuͤrlich war
aber damit der groͤßten Willkuͤr in der ſyſtematiſchen Artunterſchei-
dung Thuͤr und Thor geoͤffnet. Denn da niemals alle Jndividuen ei-
ner Species in allen Stuͤcken voͤllig gleich ſind, vielmehr jede Art
mehr oder weniger abaͤndert (variirt), ſo vermochte Niemand zu ſa-
gen, welcher Grad der Abaͤnderung eine wirkliche „gute Art“, welcher
Grad bloß eine Spielart oder Raſſe (Varietaͤt) bezeichne.

Nothwendig mußte dieſe dogmatiſche Auffaſſung des Speciesbe-
griffs und die damit verbundene Willkuͤr zu den unloͤsbarſten Wi-
derſpruͤchen und zu den unhaltbarſten Annahmen fuͤhren. Dies zeigt
ſich deutlich ſchon bei demjenigen Naturforſcher, welcher naͤchſt Linné
den groͤßten Einfluß auf die Ausbildung der Thierkunde gewann,
bei dem beruͤhmten Cuvier (geb. 1769). Er ſchloß ſich in ſeiner
Auffaſſung und Beſtimmung des Speciesbegriffs im Ganzen an Linné

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[40/0061] Gegenſatz der theoretiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs. pfungsbericht. Die Grundlage ihrer Speciesauffaſſung bildete Lin- né’s Ausſpruch: „Es gibt ſo viele Arten, als urſpruͤnglich verſchie- dene Formen erſchaffen worden ſind.“ Jedoch muͤſſen wir hier, ohne naͤher auf die Begriffsbeſtimmung der Species einzugehen, ſogleich bemerken, daß alle Zoologen und Botaniker in der ſyſtematiſchen Praxis, bei der praktiſchen Unterſcheidung und Benennung der Thier- und Pflanzenarten, ſich nicht im Geringſten um jene angenommene Schoͤpfung ihrer elterlichen Stammformen kuͤmmerten, und auch wirk- lich nicht kuͤmmern konnten. Denn natuͤrlich waren ſie niemals in der Lage, die Abſtammung aller zu einer Art gehoͤrigen Jndividuen von jener gemeinſamen, urſpruͤnglich erſchaffenen Stammform der Art nachweiſen zu koͤnnen. Vielmehr bedienten ſich ſowohl die Zoologen als die Botaniker in ihrer ſyſtematiſchen Praxis ausſchließlich der Form- aͤhnlichkeit, um die verſchiedenen Arten zu unterſcheiden und zu benen- nen. Sie ſtellten in eine Art oder Species alle organiſchen Einzel- weſen, die einander in der Formbildung ſehr aͤhnlich oder faſt gleich waren, und die ſich nur durch ſehr unbedeutende Formunterſchiede von einander trennen ließen. Dagegen betrachteten ſie als verſchie- dene Arten diejenigen Jndividuen, welche weſentlichere oder auffallen- dere Unterſchiede in ihrer Koͤrpergeſtaltung darboten. Natuͤrlich war aber damit der groͤßten Willkuͤr in der ſyſtematiſchen Artunterſchei- dung Thuͤr und Thor geoͤffnet. Denn da niemals alle Jndividuen ei- ner Species in allen Stuͤcken voͤllig gleich ſind, vielmehr jede Art mehr oder weniger abaͤndert (variirt), ſo vermochte Niemand zu ſa- gen, welcher Grad der Abaͤnderung eine wirkliche „gute Art“, welcher Grad bloß eine Spielart oder Raſſe (Varietaͤt) bezeichne. Nothwendig mußte dieſe dogmatiſche Auffaſſung des Speciesbe- griffs und die damit verbundene Willkuͤr zu den unloͤsbarſten Wi- derſpruͤchen und zu den unhaltbarſten Annahmen fuͤhren. Dies zeigt ſich deutlich ſchon bei demjenigen Naturforſcher, welcher naͤchſt Linné den groͤßten Einfluß auf die Ausbildung der Thierkunde gewann, bei dem beruͤhmten Cuvier (geb. 1769). Er ſchloß ſich in ſeiner Auffaſſung und Beſtimmung des Speciesbegriffs im Ganzen an Linné

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/61>, abgerufen am 24.11.2024.