von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeschichte und die unerschöpfliche Fundgrube der Poesie sind. Und doch verbindet eine zusammenhängende Kette von allen denkbaren Uebergangsstufen jene primitivsten Urzustände des Gemüths im Psychoplasma der einzelligen Protisten mit diesen höchsten Entwickelungsformen der Leidenschaft beim Menschen, welche sich in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abspielen. Daß auch diese letzteren den physikalischen Gesetzen absolut unterworfen sind, hat schon der große Spinoza in seiner berühmten "Statik der Gemüthsbewegungen" dargethan.
Skala des Willens. Der Begriff des Willens unter- liegt gleich anderen psychologischen Grundbegriffen (gleich den Begriffen von Vorstellung, Seele, Geist u. s. w.) den ver- schiedensten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille im weitesten Sinne als kosmologisches Attribut betrachtet: "die Welt als Wille und Vorstellung" (Schopenhauer), bald im engsten Sinne als ein anthropologisches Attribut, als eine ausschließliche Eigenschaft des Menschen: letzteres gilt z. B. für Descartes, für welchen die Thiere willenlose und empfindungslose Maschinen sind. Im gewöhnlichen Sprach- gebrauch wird der Wille von der Erscheinung der willkürlichen Bewegung abgeleitet und somit als eine Seelenthätigkeit der meisten Thiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der vergleichenden Physiologie und Entwickelungsgeschichte unter- suchen, so kommen wir -- ebenso wie bei der Empfindung -- zur Ueberzeugung, daß er eine allgemeine Eigenschaft des lebenden Psychoplasma ist. Die automatischen Bewegungen sowohl als die Reflexbewegungen, die wir schon bei den einzelligen Protisten allgemein beobachten, erscheinen uns als die Folge von Strebungen, welche mit dem Begriffe des Lebens selbst untrennbar verknüpft sind. Auch bei den Pflanzen und den niedersten Thieren erscheinen die Strebungen oder
Stufenleiter des Willens. VII.
von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeſchichte und die unerſchöpfliche Fundgrube der Poeſie ſind. Und doch verbindet eine zuſammenhängende Kette von allen denkbaren Uebergangsſtufen jene primitivſten Urzuſtände des Gemüths im Pſychoplasma der einzelligen Protiſten mit dieſen höchſten Entwickelungsformen der Leidenſchaft beim Menſchen, welche ſich in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abſpielen. Daß auch dieſe letzteren den phyſikaliſchen Geſetzen abſolut unterworfen ſind, hat ſchon der große Spinoza in ſeiner berühmten „Statik der Gemüthsbewegungen“ dargethan.
Skala des Willens. Der Begriff des Willens unter- liegt gleich anderen pſychologiſchen Grundbegriffen (gleich den Begriffen von Vorſtellung, Seele, Geiſt u. ſ. w.) den ver- ſchiedenſten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille im weiteſten Sinne als kosmologiſches Attribut betrachtet: „die Welt als Wille und Vorſtellung“ (Schopenhauer), bald im engſten Sinne als ein anthropologiſches Attribut, als eine ausſchließliche Eigenſchaft des Menſchen: letzteres gilt z. B. für Descartes, für welchen die Thiere willenloſe und empfindungsloſe Maſchinen ſind. Im gewöhnlichen Sprach- gebrauch wird der Wille von der Erſcheinung der willkürlichen Bewegung abgeleitet und ſomit als eine Seelenthätigkeit der meiſten Thiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der vergleichenden Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte unter- ſuchen, ſo kommen wir — ebenſo wie bei der Empfindung — zur Ueberzeugung, daß er eine allgemeine Eigenſchaft des lebenden Pſychoplasma iſt. Die automatiſchen Bewegungen ſowohl als die Reflexbewegungen, die wir ſchon bei den einzelligen Protiſten allgemein beobachten, erſcheinen uns als die Folge von Strebungen, welche mit dem Begriffe des Lebens ſelbſt untrennbar verknüpft ſind. Auch bei den Pflanzen und den niederſten Thieren erſcheinen die Strebungen oder
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Stufenleiter des Willens. VII.
von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeſchichte
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verbindet eine zuſammenhängende Kette von allen denkbaren
Uebergangsſtufen jene primitivſten Urzuſtände des Gemüths im
Pſychoplasma der einzelligen Protiſten mit dieſen höchſten
Entwickelungsformen der Leidenſchaft beim Menſchen, welche ſich
in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abſpielen. Daß auch
dieſe letzteren den phyſikaliſchen Geſetzen abſolut unterworfen
ſind, hat ſchon der große Spinoza in ſeiner berühmten
„Statik der Gemüthsbewegungen“ dargethan.
Skala des Willens. Der Begriff des Willens unter-
liegt gleich anderen pſychologiſchen Grundbegriffen (gleich den
Begriffen von Vorſtellung, Seele, Geiſt u. ſ. w.) den ver-
ſchiedenſten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille
im weiteſten Sinne als kosmologiſches Attribut betrachtet:
„die Welt als Wille und Vorſtellung“ (Schopenhauer),
bald im engſten Sinne als ein anthropologiſches Attribut,
als eine ausſchließliche Eigenſchaft des Menſchen: letzteres
gilt z. B. für Descartes, für welchen die Thiere willenloſe
und empfindungsloſe Maſchinen ſind. Im gewöhnlichen Sprach-
gebrauch wird der Wille von der Erſcheinung der willkürlichen
Bewegung abgeleitet und ſomit als eine Seelenthätigkeit der
meiſten Thiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der
vergleichenden Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte unter-
ſuchen, ſo kommen wir — ebenſo wie bei der Empfindung —
zur Ueberzeugung, daß er eine allgemeine Eigenſchaft des
lebenden Pſychoplasma iſt. Die automatiſchen Bewegungen
ſowohl als die Reflexbewegungen, die wir ſchon bei den
einzelligen Protiſten allgemein beobachten, erſcheinen uns als
die Folge von Strebungen, welche mit dem Begriffe des
Lebens ſelbſt untrennbar verknüpft ſind. Auch bei den Pflanzen
und den niederſten Thieren erſcheinen die Strebungen oder
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/164>, abgerufen am 16.07.2024.
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