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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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X. Animalische Theorie des Bewußtseins.
Pflanzen bestehen; ein solcher wurde schon von vielen alten
Autoren angenommen und von Linne scharf formulirt in seinem
grundlegenden "Systema naturae" (1735); die beiden großen
Reiche der organischen Natur unterscheiden sich nach ihm dadurch,
daß die Thiere Empfindung und Bewußtsein haben, die Pflanzen
nicht. Später hat besonders Schopenhauer diesen Unterschied
scharf betont: "Das Bewußtsein ist uns schlechthin nur als
Eigenschaft animaler Wesen bekannt. Auch nachdem es sich,
durch die ganze Thierreihe, bis zum Menschen und seiner Ver-
nunft gesteigert hat, bleibt die Bewußtlosigkeit der Pflanze, von
der es ausging, noch immer die Grundlage. Die untersten
Thiere haben bloß eine Dämmerung desselben." Die Unhalt-
barkeit dieser Ansicht wurde schon um die Mitte unseres Jahr-
hunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Thierstämme,
besonders der Cölenteraten (Schwämme und Nesselthiere),
näher kennen lernte: echte Thiere, die ebenso wenig Spuren von
klarem Bewußtsein besitzen wie die meisten Pflanzen. Noch mehr
wurde der Unterschied zwischen beiden Reichen verwischt, als man
die einzelligen Lebensformen derselben genauer untersuchte. Die
plasmophagen Urthiere (Protozoa) und die plasmodomen Ur-
pflanzen
(Protophyta) zeigen keine psychologischen Unter-
schiede, auch nicht in Beziehung auf ihr Bewußtsein. 5.

IV. Biologische Theorie des Bewußtseins: es ist allen
Organismen gemeinsam
, es findet sich bei allen Thieren
und Pflanzen, während es den anorganischen Naturkörpern
(Krystallen u. s. w.) fehlt. Diese Annahme wird gewöhnlich mit
der Ansicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegensatze zu
den Anorganen) beseelt sind; die drei Begriffe: Leben, Seele
und Bewußtsein, fließen dann gewöhnlich zusammen. Eine
andere Modifikation dieser Anschauung ist, daß diese drei Grund-
erscheinungen des organischen Lebens zwar untrennbar verknüpft
sind, daß aber das Bewußtsein nur ein Theil der psychischen

X. Animaliſche Theorie des Bewußtſeins.
Pflanzen beſtehen; ein ſolcher wurde ſchon von vielen alten
Autoren angenommen und von Linné ſcharf formulirt in ſeinem
grundlegenden „Syſtema naturae“ (1735); die beiden großen
Reiche der organiſchen Natur unterſcheiden ſich nach ihm dadurch,
daß die Thiere Empfindung und Bewußtſein haben, die Pflanzen
nicht. Später hat beſonders Schopenhauer dieſen Unterſchied
ſcharf betont: „Das Bewußtſein iſt uns ſchlechthin nur als
Eigenſchaft animaler Weſen bekannt. Auch nachdem es ſich,
durch die ganze Thierreihe, bis zum Menſchen und ſeiner Ver-
nunft geſteigert hat, bleibt die Bewußtloſigkeit der Pflanze, von
der es ausging, noch immer die Grundlage. Die unterſten
Thiere haben bloß eine Dämmerung desſelben.“ Die Unhalt-
barkeit dieſer Anſicht wurde ſchon um die Mitte unſeres Jahr-
hunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Thierſtämme,
beſonders der Cölenteraten (Schwämme und Neſſelthiere),
näher kennen lernte: echte Thiere, die ebenſo wenig Spuren von
klarem Bewußtſein beſitzen wie die meiſten Pflanzen. Noch mehr
wurde der Unterſchied zwiſchen beiden Reichen verwiſcht, als man
die einzelligen Lebensformen derſelben genauer unterſuchte. Die
plasmophagen Urthiere (Protozoa) und die plasmodomen Ur-
pflanzen
(Protophyta) zeigen keine pſychologiſchen Unter-
ſchiede, auch nicht in Beziehung auf ihr Bewußtſein. 5.

IV. Biologiſche Theorie des Bewußtſeins: es iſt allen
Organismen gemeinſam
, es findet ſich bei allen Thieren
und Pflanzen, während es den anorganiſchen Naturkörpern
(Kryſtallen u. ſ. w.) fehlt. Dieſe Annahme wird gewöhnlich mit
der Anſicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegenſatze zu
den Anorganen) beſeelt ſind; die drei Begriffe: Leben, Seele
und Bewußtſein, fließen dann gewöhnlich zuſammen. Eine
andere Modifikation dieſer Anſchauung iſt, daß dieſe drei Grund-
erſcheinungen des organiſchen Lebens zwar untrennbar verknüpft
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[203/0219] X. Animaliſche Theorie des Bewußtſeins. Pflanzen beſtehen; ein ſolcher wurde ſchon von vielen alten Autoren angenommen und von Linné ſcharf formulirt in ſeinem grundlegenden „Syſtema naturae“ (1735); die beiden großen Reiche der organiſchen Natur unterſcheiden ſich nach ihm dadurch, daß die Thiere Empfindung und Bewußtſein haben, die Pflanzen nicht. Später hat beſonders Schopenhauer dieſen Unterſchied ſcharf betont: „Das Bewußtſein iſt uns ſchlechthin nur als Eigenſchaft animaler Weſen bekannt. Auch nachdem es ſich, durch die ganze Thierreihe, bis zum Menſchen und ſeiner Ver- nunft geſteigert hat, bleibt die Bewußtloſigkeit der Pflanze, von der es ausging, noch immer die Grundlage. Die unterſten Thiere haben bloß eine Dämmerung desſelben.“ Die Unhalt- barkeit dieſer Anſicht wurde ſchon um die Mitte unſeres Jahr- hunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Thierſtämme, beſonders der Cölenteraten (Schwämme und Neſſelthiere), näher kennen lernte: echte Thiere, die ebenſo wenig Spuren von klarem Bewußtſein beſitzen wie die meiſten Pflanzen. Noch mehr wurde der Unterſchied zwiſchen beiden Reichen verwiſcht, als man die einzelligen Lebensformen derſelben genauer unterſuchte. Die plasmophagen Urthiere (Protozoa) und die plasmodomen Ur- pflanzen (Protophyta) zeigen keine pſychologiſchen Unter- ſchiede, auch nicht in Beziehung auf ihr Bewußtſein. ⁵ . IV. Biologiſche Theorie des Bewußtſeins: es iſt allen Organismen gemeinſam, es findet ſich bei allen Thieren und Pflanzen, während es den anorganiſchen Naturkörpern (Kryſtallen u. ſ. w.) fehlt. Dieſe Annahme wird gewöhnlich mit der Anſicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegenſatze zu den Anorganen) beſeelt ſind; die drei Begriffe: Leben, Seele und Bewußtſein, fließen dann gewöhnlich zuſammen. Eine andere Modifikation dieſer Anſchauung iſt, daß dieſe drei Grund- erſcheinungen des organiſchen Lebens zwar untrennbar verknüpft ſind, daß aber das Bewußtſein nur ein Theil der pſychiſchen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/219>, abgerufen am 21.11.2024.