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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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X. Cellulare Theorie des Bewußtseins.
ähnliche Aeußerungen von Empfindung und Willen, ähnliche
Instinkte und Bewegungen wie höhere Thiere; besonders gilt
das von den sehr empfindlichen und lebhaft beweglichen In-
fusorien. Sowohl in dem Verhalten dieser reizbaren Zellinge
gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen Lebensäußerungen
derselben (z. B. in dem wunderbaren Gehäuse-Bau der Rhizo-
poden, der Thalamophoren und Infusorien) könnte man deut-
liche Spuren bewußter Seelenthätigkeit zu erkennen glauben.
Wenn man nun die biologische Theorie des Bewußtseins acceptirt
(Nr. IV), und wenn man jede psychische Funktion mit einem
Bewußtseins-Antheil ausstattet, dann wird man auch jeder
selbständigen Protisten-Zelle Bewußtsein zuschreiben müssen. Die
materielle Grundlage desselben wäre dann entweder das ganze
Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Theil desselben.
In der Psychaden-Theorie von Fritz Schultze verhält
sich das Elementar-Bewußtsein der Psychade zur einzelnen Zelle
ähnlich wie im höheren Thiere und im Menschen das persön-
liche Bewußtsein zum vielzelligen Organismus der Person. Defi-
nitiv widerlegen läßt sich diese Annahme, die ich früher vertrat,
nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn zustimmen, welcher
in seinen ausgezeichneten "Psychophysiologischen Protisten-Studien"
annimmt, daß wohl sämmtlichen Protisten ein entwickeltes
"Ichbewußtsein" fehlt, und daß ihre Empfindungen und Be-
wegungen den Charakter des "Unbewußten" tragen.

VI. Atomistische Theorie des Bewußtseins; es ist eine
Elementar-Eigenschaft aller Atome
. Unter allen ver-
schiedenen Anschauungen über die Verbreitung des Bewußtseins
geht diese atomistische Hypothese am weitesten. Sie ist wohl
hauptsächlich der Schwierigkeit entsprungen, welche manche Philo-
sophen und Biologen bei der Frage nach der ersten Entstehung
des Bewußtseins empfinden. Diese Erscheinung trägt ja einen
so eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen

X. Cellulare Theorie des Bewußtſeins.
ähnliche Aeußerungen von Empfindung und Willen, ähnliche
Inſtinkte und Bewegungen wie höhere Thiere; beſonders gilt
das von den ſehr empfindlichen und lebhaft beweglichen In-
fuſorien. Sowohl in dem Verhalten dieſer reizbaren Zellinge
gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen Lebensäußerungen
derſelben (z. B. in dem wunderbaren Gehäuſe-Bau der Rhizo-
poden, der Thalamophoren und Infuſorien) könnte man deut-
liche Spuren bewußter Seelenthätigkeit zu erkennen glauben.
Wenn man nun die biologiſche Theorie des Bewußtſeins acceptirt
(Nr. IV), und wenn man jede pſychiſche Funktion mit einem
Bewußtſeins-Antheil ausſtattet, dann wird man auch jeder
ſelbſtändigen Protiſten-Zelle Bewußtſein zuſchreiben müſſen. Die
materielle Grundlage desſelben wäre dann entweder das ganze
Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Theil desſelben.
In der Pſychaden-Theorie von Fritz Schultze verhält
ſich das Elementar-Bewußtſein der Pſychade zur einzelnen Zelle
ähnlich wie im höheren Thiere und im Menſchen das perſön-
liche Bewußtſein zum vielzelligen Organismus der Perſon. Defi-
nitiv widerlegen läßt ſich dieſe Annahme, die ich früher vertrat,
nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn zuſtimmen, welcher
in ſeinen ausgezeichneten „Pſychophyſiologiſchen Protiſten-Studien“
annimmt, daß wohl ſämmtlichen Protiſten ein entwickeltes
„Ichbewußtſein“ fehlt, und daß ihre Empfindungen und Be-
wegungen den Charakter des „Unbewußten“ tragen.

VI. Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins; es iſt eine
Elementar-Eigenſchaft aller Atome
. Unter allen ver-
ſchiedenen Anſchauungen über die Verbreitung des Bewußtſeins
geht dieſe atomiſtiſche Hypotheſe am weiteſten. Sie iſt wohl
hauptſächlich der Schwierigkeit entſprungen, welche manche Philo-
ſophen und Biologen bei der Frage nach der erſten Entſtehung
des Bewußtſeins empfinden. Dieſe Erſcheinung trägt ja einen
ſo eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen

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[205/0221] X. Cellulare Theorie des Bewußtſeins. ähnliche Aeußerungen von Empfindung und Willen, ähnliche Inſtinkte und Bewegungen wie höhere Thiere; beſonders gilt das von den ſehr empfindlichen und lebhaft beweglichen In- fuſorien. Sowohl in dem Verhalten dieſer reizbaren Zellinge gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen Lebensäußerungen derſelben (z. B. in dem wunderbaren Gehäuſe-Bau der Rhizo- poden, der Thalamophoren und Infuſorien) könnte man deut- liche Spuren bewußter Seelenthätigkeit zu erkennen glauben. Wenn man nun die biologiſche Theorie des Bewußtſeins acceptirt (Nr. IV), und wenn man jede pſychiſche Funktion mit einem Bewußtſeins-Antheil ausſtattet, dann wird man auch jeder ſelbſtändigen Protiſten-Zelle Bewußtſein zuſchreiben müſſen. Die materielle Grundlage desſelben wäre dann entweder das ganze Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Theil desſelben. In der Pſychaden-Theorie von Fritz Schultze verhält ſich das Elementar-Bewußtſein der Pſychade zur einzelnen Zelle ähnlich wie im höheren Thiere und im Menſchen das perſön- liche Bewußtſein zum vielzelligen Organismus der Perſon. Defi- nitiv widerlegen läßt ſich dieſe Annahme, die ich früher vertrat, nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn zuſtimmen, welcher in ſeinen ausgezeichneten „Pſychophyſiologiſchen Protiſten-Studien“ annimmt, daß wohl ſämmtlichen Protiſten ein entwickeltes „Ichbewußtſein“ fehlt, und daß ihre Empfindungen und Be- wegungen den Charakter des „Unbewußten“ tragen. VI. Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins; es iſt eine Elementar-Eigenſchaft aller Atome. Unter allen ver- ſchiedenen Anſchauungen über die Verbreitung des Bewußtſeins geht dieſe atomiſtiſche Hypotheſe am weiteſten. Sie iſt wohl hauptſächlich der Schwierigkeit entſprungen, welche manche Philo- ſophen und Biologen bei der Frage nach der erſten Entſtehung des Bewußtſeins empfinden. Dieſe Erſcheinung trägt ja einen ſo eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/221>, abgerufen am 21.11.2024.