Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Atomistische Theorie des Bewußtseins. X. psychischen Funktionen höchst bedenklich erscheint; man glaubtedaher dieses Hinderniß am leichtesten dadurch zu überwinden, daß man sie als eine Elementar-Eigenschaft aller Materie an- nahm, gleich der Massen-Anziehung oder der chemischen Wahl- verwandtschaft. Es würde danach so viele Formen des Elementar- Bewußtseins geben, als es chemische Elemente giebt; jedes Atom Wasserstoff würde sein hydrogenes Bewußtsein haben, jedes Atom Kohlenstoff sein karbonisches Bewußtsein u. s. w. Auch den alten vier Elementen des Empedokles, deren Mischung durch "Lieben und Hassen" das Werden der Dinge bewirkt, schrieben manche Philosophen Bewußtsein zu. Ich selbst habe diese Hypothese des Atom-Bewußtseins Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X. pſychiſchen Funktionen höchſt bedenklich erſcheint; man glaubtedaher dieſes Hinderniß am leichteſten dadurch zu überwinden, daß man ſie als eine Elementar-Eigenſchaft aller Materie an- nahm, gleich der Maſſen-Anziehung oder der chemiſchen Wahl- verwandtſchaft. Es würde danach ſo viele Formen des Elementar- Bewußtſeins geben, als es chemiſche Elemente giebt; jedes Atom Waſſerſtoff würde ſein hydrogenes Bewußtſein haben, jedes Atom Kohlenſtoff ſein karboniſches Bewußtſein u. ſ. w. Auch den alten vier Elementen des Empedokles, deren Miſchung durch „Lieben und Haſſen“ das Werden der Dinge bewirkt, ſchrieben manche Philoſophen Bewußtſein zu. Ich ſelbſt habe dieſe Hypotheſe des Atom-Bewußtſeins <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0222" n="206"/><fw place="top" type="header">Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. <hi rendition="#aq">X.</hi></fw><lb/> pſychiſchen Funktionen höchſt bedenklich erſcheint; man glaubte<lb/> daher dieſes Hinderniß am leichteſten dadurch zu überwinden,<lb/> daß man ſie als eine Elementar-Eigenſchaft aller Materie an-<lb/> nahm, gleich der Maſſen-Anziehung oder der chemiſchen Wahl-<lb/> verwandtſchaft. Es würde danach ſo viele Formen des Elementar-<lb/> Bewußtſeins geben, als es chemiſche Elemente giebt; jedes Atom<lb/> Waſſerſtoff würde ſein hydrogenes Bewußtſein haben, jedes Atom<lb/> Kohlenſtoff ſein karboniſches Bewußtſein u. ſ. w. Auch den<lb/> alten vier Elementen des <hi rendition="#g">Empedokles</hi>, deren Miſchung durch<lb/> „Lieben und Haſſen“ das Werden der Dinge bewirkt, ſchrieben<lb/> manche Philoſophen Bewußtſein zu.</p><lb/> <p>Ich ſelbſt habe dieſe Hypotheſe des <hi rendition="#g">Atom-Bewußtſeins<lb/> niemals</hi> vertreten; ich bin gezwungen, dies hier beſonders<lb/> hervorzuheben, weil E. <hi rendition="#g">du Bois-Reymond</hi> mir dieſe Anſicht<lb/> fälſchlich untergeſchoben hat. In der ſcharfen Polemik, welche<lb/> derſelbe (1880) in ſeiner Rede über „die ſieben Welträthſel“<lb/> gegen mich führt, bekämpft er meine „verderbliche falſche Natur-<lb/> Philoſophie“ auf das Heftigſte und behauptet, ich hätte in<lb/> meinem Aufſatz über die Perigeneſis der Plaſtidule die „Annahme,<lb/> daß die Atome einzeln Bewußtſein haben, als metaphyſiſches<lb/> Axiom hingeſtellt“. Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß<lb/> ich mir die elementaren pſychiſchen Thätigkeiten der Empfindung<lb/> und des Willens, die man den Atomen zuſchreiben kann, <hi rendition="#g">un-<lb/> bewußt</hi> vorſtelle, ebenſo unbewußt wie das elementare Ge-<lb/> dächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten<lb/> Phyſiologen <hi rendition="#g">Ewald Hering</hi> (1870) als „eine allgemeine<lb/> Funktion der organiſirten Materie“ (beſſer der „lebendigen Sub-<lb/> ſtanz“) betrachte. <hi rendition="#g">Du Bois-Reymond</hi> verwechſelt demnach<lb/> hier in auffälliger Weiſe „Seele“ und „Bewußtſein“; ich will dahin<lb/> geſtellt ſein laſſen, ob er dieſe Konfuſion nur aus Verſehen<lb/> begeht. Da er ſelbſt das Bewußtſein für eine transſcendente Er-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [206/0222]
Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
pſychiſchen Funktionen höchſt bedenklich erſcheint; man glaubte
daher dieſes Hinderniß am leichteſten dadurch zu überwinden,
daß man ſie als eine Elementar-Eigenſchaft aller Materie an-
nahm, gleich der Maſſen-Anziehung oder der chemiſchen Wahl-
verwandtſchaft. Es würde danach ſo viele Formen des Elementar-
Bewußtſeins geben, als es chemiſche Elemente giebt; jedes Atom
Waſſerſtoff würde ſein hydrogenes Bewußtſein haben, jedes Atom
Kohlenſtoff ſein karboniſches Bewußtſein u. ſ. w. Auch den
alten vier Elementen des Empedokles, deren Miſchung durch
„Lieben und Haſſen“ das Werden der Dinge bewirkt, ſchrieben
manche Philoſophen Bewußtſein zu.
Ich ſelbſt habe dieſe Hypotheſe des Atom-Bewußtſeins
niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier beſonders
hervorzuheben, weil E. du Bois-Reymond mir dieſe Anſicht
fälſchlich untergeſchoben hat. In der ſcharfen Polemik, welche
derſelbe (1880) in ſeiner Rede über „die ſieben Welträthſel“
gegen mich führt, bekämpft er meine „verderbliche falſche Natur-
Philoſophie“ auf das Heftigſte und behauptet, ich hätte in
meinem Aufſatz über die Perigeneſis der Plaſtidule die „Annahme,
daß die Atome einzeln Bewußtſein haben, als metaphyſiſches
Axiom hingeſtellt“. Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß
ich mir die elementaren pſychiſchen Thätigkeiten der Empfindung
und des Willens, die man den Atomen zuſchreiben kann, un-
bewußt vorſtelle, ebenſo unbewußt wie das elementare Ge-
dächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten
Phyſiologen Ewald Hering (1870) als „eine allgemeine
Funktion der organiſirten Materie“ (beſſer der „lebendigen Sub-
ſtanz“) betrachte. Du Bois-Reymond verwechſelt demnach
hier in auffälliger Weiſe „Seele“ und „Bewußtſein“; ich will dahin
geſtellt ſein laſſen, ob er dieſe Konfuſion nur aus Verſehen
begeht. Da er ſelbſt das Bewußtſein für eine transſcendente Er-
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