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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Alte Schöpfungslehre. XIII.
Agassiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren unvoll-
kommenen Anfängen (in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts)
diese Lehre von den wiederholten Neuschöpfungen der organischen
Welt zu stützen schien, hat dieselbe später vollständig widerlegt.
V. Individuelle Kreation: jeder einzelne Mensch -- ebenso
wie jedes einzelne Thier und jedes Pflanzen-Individuum -- ist
nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungs-Akt entstanden,
sondern durch die Gnade Gottes geschaffen ("der alle Dinge
kennt und die Haare auf unserem Haupte gezählt hat"). Man
liest diese christliche Schöpfungs-Ansicht noch heute oft in den
Zeitungen, besonders bei Geburts-Anzeigen ("Gestern schenkte
uns der gnädige Gott einen gesunden Knaben" u. s. w.). Auch
die individuellen Talente und Vorzüge unserer Kinder werden
oft als "besondere Gaben Gottes" dankbar anerkannt (die erblichen
Fehler gewöhnlich nicht!).

Entwickelung (Genesis, Evolutio). Die Unhaltbarkeit der
Schöpfungs-Sagen und des damit verknüpften Wunderglaubens
mußte sich schon frühzeitig denkenden Menschen aufdrängen; wir
finden daher schon vor mehr als zweitausend Jahren zahlreiche
Versuche, dieselben durch eine vernünftige Theorie zu ersetzen
und die Entstehung der Welt mittelst natürlicher Ursachen zu
erklären. Allen voran stehen hierin wieder die großen Denker
der ionischen Naturphilosophie, ferner Demokritos, Heraklitos,
Empedokles, Aristoteles, Lukretius und andere Philosophen des
Alterthums. Die ersten unvollkommenen Versuche, welche sie
unternahmen, überraschen uns zum Theil durch strahlende Licht-
blicke des Geistes, die als Vorläufer moderner Ideen erscheinen.
Indessen fehlte dem klassischen Alterthum jener sichere Boden
der naturphilosophischen Spekulation, der erst durch unzählige
Beobachtungen und Versuche der Neuzeit gewonnen wurde. Wäh-
rend des Mittelalters -- und besonders während der Gewalt-
herrschaft des Papismus -- ruhte die wissenschaftliche Forschung

Alte Schöpfungslehre. XIII.
Agaſſiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren unvoll-
kommenen Anfängen (in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts)
dieſe Lehre von den wiederholten Neuſchöpfungen der organiſchen
Welt zu ſtützen ſchien, hat dieſelbe ſpäter vollſtändig widerlegt.
V. Individuelle Kreation: jeder einzelne Menſch — ebenſo
wie jedes einzelne Thier und jedes Pflanzen-Individuum — iſt
nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungs-Akt entſtanden,
ſondern durch die Gnade Gottes geſchaffen („der alle Dinge
kennt und die Haare auf unſerem Haupte gezählt hat“). Man
lieſt dieſe chriſtliche Schöpfungs-Anſicht noch heute oft in den
Zeitungen, beſonders bei Geburts-Anzeigen („Geſtern ſchenkte
uns der gnädige Gott einen geſunden Knaben“ u. ſ. w.). Auch
die individuellen Talente und Vorzüge unſerer Kinder werden
oft als „beſondere Gaben Gottes“ dankbar anerkannt (die erblichen
Fehler gewöhnlich nicht!).

Entwickelung (Geneſiſ, Evolutio). Die Unhaltbarkeit der
Schöpfungs-Sagen und des damit verknüpften Wunderglaubens
mußte ſich ſchon frühzeitig denkenden Menſchen aufdrängen; wir
finden daher ſchon vor mehr als zweitauſend Jahren zahlreiche
Verſuche, dieſelben durch eine vernünftige Theorie zu erſetzen
und die Entſtehung der Welt mittelſt natürlicher Urſachen zu
erklären. Allen voran ſtehen hierin wieder die großen Denker
der ioniſchen Naturphiloſophie, ferner Demokritos, Heraklitos,
Empedokles, Ariſtoteles, Lukretius und andere Philoſophen des
Alterthums. Die erſten unvollkommenen Verſuche, welche ſie
unternahmen, überraſchen uns zum Theil durch ſtrahlende Licht-
blicke des Geiſtes, die als Vorläufer moderner Ideen erſcheinen.
Indeſſen fehlte dem klaſſiſchen Alterthum jener ſichere Boden
der naturphiloſophiſchen Spekulation, der erſt durch unzählige
Beobachtungen und Verſuche der Neuzeit gewonnen wurde. Wäh-
rend des Mittelalters — und beſonders während der Gewalt-
herrſchaft des Papismus — ruhte die wiſſenſchaftliche Forſchung

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[276/0292] Alte Schöpfungslehre. XIII. Agaſſiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren unvoll- kommenen Anfängen (in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts) dieſe Lehre von den wiederholten Neuſchöpfungen der organiſchen Welt zu ſtützen ſchien, hat dieſelbe ſpäter vollſtändig widerlegt. V. Individuelle Kreation: jeder einzelne Menſch — ebenſo wie jedes einzelne Thier und jedes Pflanzen-Individuum — iſt nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungs-Akt entſtanden, ſondern durch die Gnade Gottes geſchaffen („der alle Dinge kennt und die Haare auf unſerem Haupte gezählt hat“). Man lieſt dieſe chriſtliche Schöpfungs-Anſicht noch heute oft in den Zeitungen, beſonders bei Geburts-Anzeigen („Geſtern ſchenkte uns der gnädige Gott einen geſunden Knaben“ u. ſ. w.). Auch die individuellen Talente und Vorzüge unſerer Kinder werden oft als „beſondere Gaben Gottes“ dankbar anerkannt (die erblichen Fehler gewöhnlich nicht!). Entwickelung (Geneſiſ, Evolutio). Die Unhaltbarkeit der Schöpfungs-Sagen und des damit verknüpften Wunderglaubens mußte ſich ſchon frühzeitig denkenden Menſchen aufdrängen; wir finden daher ſchon vor mehr als zweitauſend Jahren zahlreiche Verſuche, dieſelben durch eine vernünftige Theorie zu erſetzen und die Entſtehung der Welt mittelſt natürlicher Urſachen zu erklären. Allen voran ſtehen hierin wieder die großen Denker der ioniſchen Naturphiloſophie, ferner Demokritos, Heraklitos, Empedokles, Ariſtoteles, Lukretius und andere Philoſophen des Alterthums. Die erſten unvollkommenen Verſuche, welche ſie unternahmen, überraſchen uns zum Theil durch ſtrahlende Licht- blicke des Geiſtes, die als Vorläufer moderner Ideen erſcheinen. Indeſſen fehlte dem klaſſiſchen Alterthum jener ſichere Boden der naturphiloſophiſchen Spekulation, der erſt durch unzählige Beobachtungen und Verſuche der Neuzeit gewonnen wurde. Wäh- rend des Mittelalters — und beſonders während der Gewalt- herrſchaft des Papismus — ruhte die wiſſenſchaftliche Forſchung

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/292>, abgerufen am 22.11.2024.