auf diesem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen der Inquisition sorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an die hebräische Mythologie des Moses als definitive Antwort auf alle Schöpfungsfragen galt. Selbst diejenigen Erscheinungen, die unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Thatsachen aufforderten, die Keimesgeschichte der Thiere und Pflanzen, die Embryologie des Menschen, blieben unbeachtet oder erregten nur hier und da das Interesse einzelner wißbegieriger Beobachter: aber ihre Entdeckungen wurden ignorirt und vergessen. Außerdem wurde der wahren Erkenntniß der natürlichen Entwickelung ihr Weg von vornherein durch die herrschende Präformations- Lehre versperrt, durch das Dogma, daß die charakteristische Form und Struktur jeder Thier- und Pflanzen-Art schon im Keime vorgebildet sei (vergl. S. 64).
Entwickelungslehre (Genetik, Evolutismus, Evo- lutionismus). Die Wissenschaft, die wir heute Entwickelungs- lehre (im weitesten Sinne) nennen, ist sowohl im Ganzen als in ihren einzelnen Theilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; sie gehört zu dessen wichtigsten und glänzendsten Erzeugnissen. That- sächlich ist dieser Begriff, der noch im vorigen Jahrhundert fast unbekannt war, heute bereits ein fester Grundstein unserer ganzen Weltanschauung geworden. Ich habe die Grundzüge derselben in früheren Schriften ausführlich behandelt, am eingehendsten in der "Generellen Morphologie" (1866), sodann mehr populär in der "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868, neunte Auflage 1898) und mit besonderer Beziehung auf den Menschen in der "Anthropogenie" (1874, vierte Auflage 1891). Ich beschränke mich daher hier auf eine kurze Uebersicht der wichtigsten Fort- schritte, welche die Entwickelungslehre im Laufe unseres Jahr- hunderts gemacht hat; sie zerfällt nach ihren Objekten in vier Haupttheile: sie betrifft die natürliche Entstehung 1. des Kosmos, 2. der Erde, 3. der irdischen Organismen und 4. des Menschen.
XIII. Moderne Entwickelungslehre.
auf dieſem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen der Inquiſition ſorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an die hebräiſche Mythologie des Moſes als definitive Antwort auf alle Schöpfungsfragen galt. Selbſt diejenigen Erſcheinungen, die unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Thatſachen aufforderten, die Keimesgeſchichte der Thiere und Pflanzen, die Embryologie des Menſchen, blieben unbeachtet oder erregten nur hier und da das Intereſſe einzelner wißbegieriger Beobachter: aber ihre Entdeckungen wurden ignorirt und vergeſſen. Außerdem wurde der wahren Erkenntniß der natürlichen Entwickelung ihr Weg von vornherein durch die herrſchende Präformations- Lehre verſperrt, durch das Dogma, daß die charakteriſtiſche Form und Struktur jeder Thier- und Pflanzen-Art ſchon im Keime vorgebildet ſei (vergl. S. 64).
Entwickelungslehre (Genetik, Evolutismus, Evo- lutionismus). Die Wiſſenſchaft, die wir heute Entwickelungs- lehre (im weiteſten Sinne) nennen, iſt ſowohl im Ganzen als in ihren einzelnen Theilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; ſie gehört zu deſſen wichtigſten und glänzendſten Erzeugniſſen. That- ſächlich iſt dieſer Begriff, der noch im vorigen Jahrhundert faſt unbekannt war, heute bereits ein feſter Grundſtein unſerer ganzen Weltanſchauung geworden. Ich habe die Grundzüge derſelben in früheren Schriften ausführlich behandelt, am eingehendſten in der „Generellen Morphologie“ (1866), ſodann mehr populär in der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (1868, neunte Auflage 1898) und mit beſonderer Beziehung auf den Menſchen in der „Anthropogenie“ (1874, vierte Auflage 1891). Ich beſchränke mich daher hier auf eine kurze Ueberſicht der wichtigſten Fort- ſchritte, welche die Entwickelungslehre im Laufe unſeres Jahr- hunderts gemacht hat; ſie zerfällt nach ihren Objekten in vier Haupttheile: ſie betrifft die natürliche Entſtehung 1. des Kosmos, 2. der Erde, 3. der irdiſchen Organismen und 4. des Menſchen.
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XIII. Moderne Entwickelungslehre.
auf dieſem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen
der Inquiſition ſorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an
die hebräiſche Mythologie des Moſes als definitive Antwort auf
alle Schöpfungsfragen galt. Selbſt diejenigen Erſcheinungen, die
unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Thatſachen
aufforderten, die Keimesgeſchichte der Thiere und Pflanzen, die
Embryologie des Menſchen, blieben unbeachtet oder erregten nur
hier und da das Intereſſe einzelner wißbegieriger Beobachter:
aber ihre Entdeckungen wurden ignorirt und vergeſſen. Außerdem
wurde der wahren Erkenntniß der natürlichen Entwickelung ihr
Weg von vornherein durch die herrſchende Präformations-
Lehre verſperrt, durch das Dogma, daß die charakteriſtiſche Form
und Struktur jeder Thier- und Pflanzen-Art ſchon im Keime
vorgebildet ſei (vergl. S. 64).
Entwickelungslehre (Genetik, Evolutismus, Evo-
lutionismus). Die Wiſſenſchaft, die wir heute Entwickelungs-
lehre (im weiteſten Sinne) nennen, iſt ſowohl im Ganzen als
in ihren einzelnen Theilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; ſie
gehört zu deſſen wichtigſten und glänzendſten Erzeugniſſen. That-
ſächlich iſt dieſer Begriff, der noch im vorigen Jahrhundert faſt
unbekannt war, heute bereits ein feſter Grundſtein unſerer ganzen
Weltanſchauung geworden. Ich habe die Grundzüge derſelben
in früheren Schriften ausführlich behandelt, am eingehendſten in
der „Generellen Morphologie“ (1866), ſodann mehr populär in
der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (1868, neunte Auflage
1898) und mit beſonderer Beziehung auf den Menſchen in der
„Anthropogenie“ (1874, vierte Auflage 1891). Ich beſchränke
mich daher hier auf eine kurze Ueberſicht der wichtigſten Fort-
ſchritte, welche die Entwickelungslehre im Laufe unſeres Jahr-
hunderts gemacht hat; ſie zerfällt nach ihren Objekten in vier
Haupttheile: ſie betrifft die natürliche Entſtehung 1. des Kosmos,
2. der Erde, 3. der irdiſchen Organismen und 4. des Menſchen.
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/293>, abgerufen am 17.07.2024.
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