Jch sehe nicht, was man, nach dieser Beseelung, für eine andere Epoche feste sezzen könnte: und wie könnte ich sagen, daß die Seele wegen der weichen Beschaf- fenheit des Gehirns in die Frucht nicht wirken können sollte, da man unzählige Graden in dieser Weiche (h) annehmen kann, und ich die freiwillige Bewegung am Hühnchen wenig Tage, nachdem ich das erstemal das Herz erblickt hatte, wahrgenommen (i).
Schwer würde es zu beweisen sein, daß der Mensch schon vor der Empfängnis (k) lebe, oder daß die Saa- menthierchen bereits eine Seele haben (l). Nothwen- dig mus man in einem Thierchen, so im Eierstokke ein- geschlossen ist, eine so geringe Bewegung des Herzens annehmen, daß die Frucht keine Ausdehnung bekömmt, und daß die übrigen Gliedmaassen, und die dem Willen unterworfenen Theile überhaupt, ohne allen Gebrauch bleiben, und die Sinnen noch gar keine Anwendung er- faren. Doch ich wage es, so wenig als Galen(m), über diese Geheimnisse, und über den Ursprung der menschlichen Seele einen Ausspruch zu thun.
Ueberhaupt ist es wahrscheinlich, daß die Seele so- wohl zu der Zeit eine Frucht bewohne, wenn die Glie- der derselben sich willkürlich zu bewegen anfangen, son- dern auch schon etwas früher: und man wird leichtlich eingestehen, daß diese Bewegung an durchsichtigen, un- gemein kleinen, und selten zum Vorschein kommenden Theilen, um etwas früher vorhanden seyn müsse, ehe sie den Augen sichtbar werden kann.
§. 2.
(h)[Spaltenumbruch]GERIKE p. 158.
(i)Hora. 131. form du poulet. II. p. 49.
(k)KAAUW impet. 71.
(l)[Spaltenumbruch]SUPERVILLE philos. trans. n. 456.
(m)Form. fet.
U 2
III. Abſ. Die Nachgeburt.
Jch ſehe nicht, was man, nach dieſer Beſeelung, fuͤr eine andere Epoche feſte ſezzen koͤnnte: und wie koͤnnte ich ſagen, daß die Seele wegen der weichen Beſchaf- fenheit des Gehirns in die Frucht nicht wirken koͤnnen ſollte, da man unzaͤhlige Graden in dieſer Weiche (h) annehmen kann, und ich die freiwillige Bewegung am Huͤhnchen wenig Tage, nachdem ich das erſtemal das Herz erblickt hatte, wahrgenommen (i).
Schwer wuͤrde es zu beweiſen ſein, daß der Menſch ſchon vor der Empfaͤngnis (k) lebe, oder daß die Saa- menthierchen bereits eine Seele haben (l). Nothwen- dig mus man in einem Thierchen, ſo im Eierſtokke ein- geſchloſſen iſt, eine ſo geringe Bewegung des Herzens annehmen, daß die Frucht keine Ausdehnung bekoͤmmt, und daß die uͤbrigen Gliedmaaſſen, und die dem Willen unterworfenen Theile uͤberhaupt, ohne allen Gebrauch bleiben, und die Sinnen noch gar keine Anwendung er- faren. Doch ich wage es, ſo wenig als Galen(m), uͤber dieſe Geheimniſſe, und uͤber den Urſprung der menſchlichen Seele einen Ausſpruch zu thun.
Ueberhaupt iſt es wahrſcheinlich, daß die Seele ſo- wohl zu der Zeit eine Frucht bewohne, wenn die Glie- der derſelben ſich willkuͤrlich zu bewegen anfangen, ſon- dern auch ſchon etwas fruͤher: und man wird leichtlich eingeſtehen, daß dieſe Bewegung an durchſichtigen, un- gemein kleinen, und ſelten zum Vorſchein kommenden Theilen, um etwas fruͤher vorhanden ſeyn muͤſſe, ehe ſie den Augen ſichtbar werden kann.
§. 2.
(h)[Spaltenumbruch]GERIKE p. 158.
(i)Hora. 131. form du poulet. II. p. 49.
(k)KAAUW impet. 71.
(l)[Spaltenumbruch]SUPERVILLE philoſ. tranſ. n. 456.
(m)Form. fet.
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III. Abſ. Die Nachgeburt.
Jch ſehe nicht, was man, nach dieſer Beſeelung, fuͤr
eine andere Epoche feſte ſezzen koͤnnte: und wie koͤnnte
ich ſagen, daß die Seele wegen der weichen Beſchaf-
fenheit des Gehirns in die Frucht nicht wirken koͤnnen
ſollte, da man unzaͤhlige Graden in dieſer Weiche (h)
annehmen kann, und ich die freiwillige Bewegung am
Huͤhnchen wenig Tage, nachdem ich das erſtemal das
Herz erblickt hatte, wahrgenommen (i).
Schwer wuͤrde es zu beweiſen ſein, daß der Menſch
ſchon vor der Empfaͤngnis (k) lebe, oder daß die Saa-
menthierchen bereits eine Seele haben (l). Nothwen-
dig mus man in einem Thierchen, ſo im Eierſtokke ein-
geſchloſſen iſt, eine ſo geringe Bewegung des Herzens
annehmen, daß die Frucht keine Ausdehnung bekoͤmmt,
und daß die uͤbrigen Gliedmaaſſen, und die dem Willen
unterworfenen Theile uͤberhaupt, ohne allen Gebrauch
bleiben, und die Sinnen noch gar keine Anwendung er-
faren. Doch ich wage es, ſo wenig als Galen (m),
uͤber dieſe Geheimniſſe, und uͤber den Urſprung der
menſchlichen Seele einen Ausſpruch zu thun.
Ueberhaupt iſt es wahrſcheinlich, daß die Seele ſo-
wohl zu der Zeit eine Frucht bewohne, wenn die Glie-
der derſelben ſich willkuͤrlich zu bewegen anfangen, ſon-
dern auch ſchon etwas fruͤher: und man wird leichtlich
eingeſtehen, daß dieſe Bewegung an durchſichtigen, un-
gemein kleinen, und ſelten zum Vorſchein kommenden
Theilen, um etwas fruͤher vorhanden ſeyn muͤſſe, ehe ſie
den Augen ſichtbar werden kann.
§. 2.
(h)
GERIKE p. 158.
(i) Hora. 131. form du poulet.
II. p. 49.
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende08_1776/359>, abgerufen am 22.11.2024.
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