oft genug berücksichtigt oder nicht weit genug verfolgt; man hat noch zu wenig daran gedacht (außer in der Behandlung der Geisteskrankheiten) die Leidenschaften als Heilmittel zu benutzen. Allerdings ist es leichter, ein gewöhnliches Recept zu verschreiben, als den Gemüthszustand seines Patienten zu studiren, sein Vertrauen zu erwerben, und sich der schwachen oder starken Seiten seines Charakters als Hebel zu seiner körperlichen Besserung zu bedienen. Aber, von der andern Seite, welch ein Triumph für den denkenden Arzt durch die unmittelbare Einwirkung seiner eigenen Seele, die Seele eines Mitmenschen aufzurichten, und sie aus erstarrender Lethargie zu neuem Leben zu erwecken!
Die Einwirkung der Affecte auf den ganzen Orga- nismus ist in der That erstaunlich. Schmerz, Freude, Zorn und Schrecken können tödten wie der Blitz oder den Verstand unheilbar zerrütten. Eine freudige Botschaft ruft oft den Kranken von den Pforten des Todes zurück. Nach einer Schlacht ist die Sterblichkeit unter den Verwundeten der geschlagenen Armee (auch bei gleicher Pflege) am größten. Furcht bleicht in wenigen Stunden die Haare des Jüng- lings. So durchlaufen die Affecte die Scala von der höchsten Erregung bis zur tiefsten Depression und sind die immateriellen Repräsentanten der materiellen Arzneimittel (stärkend, erregend, narcotisch, schwächend.)
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oft genug beruͤckſichtigt oder nicht weit genug verfolgt; man hat noch zu wenig daran gedacht (außer in der Behandlung der Geiſteskrankheiten) die Leidenſchaften als Heilmittel zu benutzen. Allerdings iſt es leichter, ein gewoͤhnliches Recept zu verſchreiben, als den Gemuͤthszuſtand ſeines Patienten zu ſtudiren, ſein Vertrauen zu erwerben, und ſich der ſchwachen oder ſtarken Seiten ſeines Charakters als Hebel zu ſeiner koͤrperlichen Beſſerung zu bedienen. Aber, von der andern Seite, welch ein Triumph fuͤr den denkenden Arzt durch die unmittelbare Einwirkung ſeiner eigenen Seele, die Seele eines Mitmenſchen aufzurichten, und ſie aus erſtarrender Lethargie zu neuem Leben zu erwecken!
Die Einwirkung der Affecte auf den ganzen Orga- nismus iſt in der That erſtaunlich. Schmerz, Freude, Zorn und Schrecken koͤnnen toͤdten wie der Blitz oder den Verſtand unheilbar zerruͤtten. Eine freudige Botſchaft ruft oft den Kranken von den Pforten des Todes zuruͤck. Nach einer Schlacht iſt die Sterblichkeit unter den Verwundeten der geſchlagenen Armee (auch bei gleicher Pflege) am groͤßten. Furcht bleicht in wenigen Stunden die Haare des Jüng- lings. So durchlaufen die Affecte die Scala von der hoͤchſten Erregung bis zur tiefſten Depreſſion und ſind die immateriellen Repraͤſentanten der materiellen Arzneimittel (ſtaͤrkend, erregend, narcotiſch, ſchwaͤchend.)
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oft genug beruͤckſichtigt oder nicht weit genug verfolgt;
man hat noch zu wenig daran gedacht (außer in der
Behandlung der Geiſteskrankheiten) die Leidenſchaften
als Heilmittel zu benutzen. Allerdings iſt es leichter,
ein gewoͤhnliches Recept zu verſchreiben, als den
Gemuͤthszuſtand ſeines Patienten zu ſtudiren, ſein
Vertrauen zu erwerben, und ſich der ſchwachen oder
ſtarken Seiten ſeines Charakters als Hebel zu ſeiner
koͤrperlichen Beſſerung zu bedienen. Aber, von der
andern Seite, welch ein Triumph fuͤr den denkenden
Arzt durch die unmittelbare Einwirkung ſeiner eigenen
Seele, die Seele eines Mitmenſchen aufzurichten, und
ſie aus erſtarrender Lethargie zu neuem Leben zu
erwecken!
Die Einwirkung der Affecte auf den ganzen Orga-
nismus iſt in der That erſtaunlich. Schmerz, Freude,
Zorn und Schrecken koͤnnen toͤdten wie der Blitz oder
den Verſtand unheilbar zerruͤtten. Eine freudige
Botſchaft ruft oft den Kranken von den Pforten
des Todes zuruͤck. Nach einer Schlacht iſt die
Sterblichkeit unter den Verwundeten der geſchlagenen
Armee (auch bei gleicher Pflege) am groͤßten. Furcht
bleicht in wenigen Stunden die Haare des Jüng-
lings. So durchlaufen die Affecte die Scala von
der hoͤchſten Erregung bis zur tiefſten Depreſſion und
ſind die immateriellen Repraͤſentanten der materiellen
Arzneimittel (ſtaͤrkend, erregend, narcotiſch, ſchwaͤchend.)
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Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/109>, abgerufen am 16.02.2025.
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