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Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892.

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Oft blieb er, Tobiäschen an der Hand, stehen,
um den wunderbaren Lauten zu lauschen, die
aus dem Holze wie sonore Choräle aus dem
Innern einer Kirche hervorströmten. Die Stange
am Südende des Reviers hatte einen besonders
vollen und schönen Akkord. Es war ein Ge¬
wühl von Tönen in ihrem Innern, die ohne
Unterbrechung gleichsam in einem Atem fort¬
klangen, und Tobias lief rings um das ver¬
witterte Holz, um, wie er glaubte, durch eine
Öffnung in demselben die Urheber des
lieblichen Getöns zu entdecken. Der Wärter
wurde weihevoll gestimmt, ähnlich wie in der
Kirche. Zudem unterschied er mit der Zeit
eine Stimme, die ihn an seine verstorbene Frau
erinnerte. Er stellte sich vor, es sei ein Chor
seliger Geister, in den sie ja auch ihre Stimme
mische, und diese Vorstellung erweckte in ihm
eine Sehnsucht, eine Rührung bis zu Thränen.

Tobias verlangte nach den Blumen, die seit¬
ab standen, und Thiel wie immer gab ihm nach.

Stücke blauen Himmels schienen auf den
Boden des Haines herabgesunken, so wunderbar
dicht standen kleine blaue Blüten darauf.
Farbigen Wimpeln gleich flatterten und gaukelten
die Schmetterlinge lautlos zwischen dem leuchten¬

Oft blieb er, Tobiäschen an der Hand, ſtehen,
um den wunderbaren Lauten zu lauſchen, die
aus dem Holze wie ſonore Choräle aus dem
Innern einer Kirche hervorſtrömten. Die Stange
am Südende des Reviers hatte einen beſonders
vollen und ſchönen Akkord. Es war ein Ge¬
wühl von Tönen in ihrem Innern, die ohne
Unterbrechung gleichſam in einem Atem fort¬
klangen, und Tobias lief rings um das ver¬
witterte Holz, um, wie er glaubte, durch eine
Öffnung in demſelben die Urheber des
lieblichen Getöns zu entdecken. Der Wärter
wurde weihevoll geſtimmt, ähnlich wie in der
Kirche. Zudem unterſchied er mit der Zeit
eine Stimme, die ihn an ſeine verſtorbene Frau
erinnerte. Er ſtellte ſich vor, es ſei ein Chor
ſeliger Geiſter, in den ſie ja auch ihre Stimme
miſche, und dieſe Vorſtellung erweckte in ihm
eine Sehnſucht, eine Rührung bis zu Thränen.

Tobias verlangte nach den Blumen, die ſeit¬
ab ſtanden, und Thiel wie immer gab ihm nach.

Stücke blauen Himmels ſchienen auf den
Boden des Haines herabgeſunken, ſo wunderbar
dicht ſtanden kleine blaue Blüten darauf.
Farbigen Wimpeln gleich flatterten und gaukelten
die Schmetterlinge lautlos zwiſchen dem leuchten¬

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[42/0054] Oft blieb er, Tobiäschen an der Hand, ſtehen, um den wunderbaren Lauten zu lauſchen, die aus dem Holze wie ſonore Choräle aus dem Innern einer Kirche hervorſtrömten. Die Stange am Südende des Reviers hatte einen beſonders vollen und ſchönen Akkord. Es war ein Ge¬ wühl von Tönen in ihrem Innern, die ohne Unterbrechung gleichſam in einem Atem fort¬ klangen, und Tobias lief rings um das ver¬ witterte Holz, um, wie er glaubte, durch eine Öffnung in demſelben die Urheber des lieblichen Getöns zu entdecken. Der Wärter wurde weihevoll geſtimmt, ähnlich wie in der Kirche. Zudem unterſchied er mit der Zeit eine Stimme, die ihn an ſeine verſtorbene Frau erinnerte. Er ſtellte ſich vor, es ſei ein Chor ſeliger Geiſter, in den ſie ja auch ihre Stimme miſche, und dieſe Vorſtellung erweckte in ihm eine Sehnſucht, eine Rührung bis zu Thränen. Tobias verlangte nach den Blumen, die ſeit¬ ab ſtanden, und Thiel wie immer gab ihm nach. Stücke blauen Himmels ſchienen auf den Boden des Haines herabgeſunken, ſo wunderbar dicht ſtanden kleine blaue Blüten darauf. Farbigen Wimpeln gleich flatterten und gaukelten die Schmetterlinge lautlos zwiſchen dem leuchten¬

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Zitationshilfe: Hauptmann, Gerhart: Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, 1892, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_bahnwaerter_1892/54>, abgerufen am 09.05.2024.