Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch. §. 27.
Selbstentwickelung thun und unterlassen kann. Dies ist Gegen-
stand des inneren Staatsrechts. Zwar ist auch noch in der äu-
ßeren Staatenpraxis oft von einem s. g. Convenienzrecht (droit
de convenance
) die Rede gewesen, als der Befugniß jedes Staa-
tes, im Fall collidirender Interessen gegen andere Staaten so zu
verfahren, wie es dem eigenen Interesse am angemessensten erachtet
wird. Eine solche Befugniß hat man jedoch nur, sofern kein wohl-
begründetes Recht des anderen Staates entgegensteht, was begreif-
lich auch auf keinem einseitigen politischen Interesse beruhen kann,
und es versteht sich dann das Handeln nach eigener Convenienz ganz
von selbst. Außerdem läßt sich ein solches Handeln und ein Recht
dazu nur nachweisen
Einmal: im Zustande des Krieges, wo es mit der s. g.
Kriegsräson identisch ist; und
Zweitens: im Fall eines wirklichen Nothstandes, wo es
identisch ist mit dem s. g. Nothrecht oder äußersten Recht der
Staaten, sich in der Gefahr eines bevorstehenden Verlustes
der Existenz oder eines einzelnen bestimmten Rechtes, selbst auf
Kosten und mit Verletzung Anderer, die Existenz und unter-
scheidungsweise das gefährdete Recht zu retten.

Keine dieser beiden Arten legitimer Convenienz ist jedoch völlig
regellos, wie weiterhin gezeigt werden soll. 1

Gleichheit der Staaten.

27. Ein souveräner Staat ist seinem Begriff nach überall der-
selbe und trägt daher eine vollkommene Rechtsgleichheit aller in sich,
ganz abgesehen von der verschiedenen politischen Bedeutung jedes
einzelnen. Auch der kleinste Staat kann sonach, gleich dem größe-
ren, dasselbe Recht mit diesem in Anspruch nehmen und ausüben,
und hat sich keiner Ungleichheit der Behandlung von Seiten eines

1 Man s. über das s. g. Convenienzrecht Moser, Beitr. I, 5. F. H. Stru-
ben, Abh. von d. Kriegsraison und dem Convenienzrecht, in d. Samml.
auserl. jur. Abh. Leipz. 1768. S. 31 f. Verhandlungen darüber haben
am Deutschen Bundestage im J. 1821 Statt gefunden. M. s. L. v. Dresch
Abh. über Gegenst. des öffentl. R. 1830. Nr. 1. Heffter, Beitr. z. d.
Staats- u. Priv.-Fürstenr. S. 184. Klüber, öffentl. R. des D. Bundes
§. 175.

Erſtes Buch. §. 27.
Selbſtentwickelung thun und unterlaſſen kann. Dies iſt Gegen-
ſtand des inneren Staatsrechts. Zwar iſt auch noch in der äu-
ßeren Staatenpraxis oft von einem ſ. g. Convenienzrecht (droit
de convenance
) die Rede geweſen, als der Befugniß jedes Staa-
tes, im Fall collidirender Intereſſen gegen andere Staaten ſo zu
verfahren, wie es dem eigenen Intereſſe am angemeſſenſten erachtet
wird. Eine ſolche Befugniß hat man jedoch nur, ſofern kein wohl-
begründetes Recht des anderen Staates entgegenſteht, was begreif-
lich auch auf keinem einſeitigen politiſchen Intereſſe beruhen kann,
und es verſteht ſich dann das Handeln nach eigener Convenienz ganz
von ſelbſt. Außerdem läßt ſich ein ſolches Handeln und ein Recht
dazu nur nachweiſen
Einmal: im Zuſtande des Krieges, wo es mit der ſ. g.
Kriegsräſon identiſch iſt; und
Zweitens: im Fall eines wirklichen Nothſtandes, wo es
identiſch iſt mit dem ſ. g. Nothrecht oder äußerſten Recht der
Staaten, ſich in der Gefahr eines bevorſtehenden Verluſtes
der Exiſtenz oder eines einzelnen beſtimmten Rechtes, ſelbſt auf
Koſten und mit Verletzung Anderer, die Exiſtenz und unter-
ſcheidungsweiſe das gefährdete Recht zu retten.

Keine dieſer beiden Arten legitimer Convenienz iſt jedoch völlig
regellos, wie weiterhin gezeigt werden ſoll. 1

Gleichheit der Staaten.

27. Ein ſouveräner Staat iſt ſeinem Begriff nach überall der-
ſelbe und trägt daher eine vollkommene Rechtsgleichheit aller in ſich,
ganz abgeſehen von der verſchiedenen politiſchen Bedeutung jedes
einzelnen. Auch der kleinſte Staat kann ſonach, gleich dem größe-
ren, daſſelbe Recht mit dieſem in Anſpruch nehmen und ausüben,
und hat ſich keiner Ungleichheit der Behandlung von Seiten eines

1 Man ſ. über das ſ. g. Convenienzrecht Moſer, Beitr. I, 5. F. H. Stru-
ben, Abh. von d. Kriegsraiſon und dem Convenienzrecht, in d. Samml.
auserl. jur. Abh. Leipz. 1768. S. 31 f. Verhandlungen darüber haben
am Deutſchen Bundestage im J. 1821 Statt gefunden. M. ſ. L. v. Dreſch
Abh. über Gegenſt. des öffentl. R. 1830. Nr. 1. Heffter, Beitr. z. d.
Staats- u. Priv.-Fürſtenr. S. 184. Klüber, öffentl. R. des D. Bundes
§. 175.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0068" n="44"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;tes Buch</hi>. §. 27.</fw><lb/>
Selb&#x017F;tentwickelung thun und unterla&#x017F;&#x017F;en kann. Dies i&#x017F;t Gegen-<lb/>
&#x017F;tand des inneren Staatsrechts. Zwar i&#x017F;t auch noch in der äu-<lb/>
ßeren Staatenpraxis oft von einem &#x017F;. g. <hi rendition="#g">Convenienzrecht</hi> (<hi rendition="#aq">droit<lb/>
de convenance</hi>) die Rede gewe&#x017F;en, als der Befugniß jedes Staa-<lb/>
tes, im Fall collidirender Intere&#x017F;&#x017F;en gegen andere Staaten &#x017F;o zu<lb/>
verfahren, wie es dem eigenen Intere&#x017F;&#x017F;e am angeme&#x017F;&#x017F;en&#x017F;ten erachtet<lb/>
wird. Eine &#x017F;olche Befugniß hat man jedoch nur, &#x017F;ofern kein wohl-<lb/>
begründetes Recht des anderen Staates entgegen&#x017F;teht, was begreif-<lb/>
lich auch auf keinem ein&#x017F;eitigen politi&#x017F;chen Intere&#x017F;&#x017F;e beruhen kann,<lb/>
und es ver&#x017F;teht &#x017F;ich dann das Handeln nach eigener Convenienz ganz<lb/>
von &#x017F;elb&#x017F;t. Außerdem läßt &#x017F;ich ein &#x017F;olches Handeln und ein Recht<lb/>
dazu nur nachwei&#x017F;en<lb/><hi rendition="#et">Einmal: im Zu&#x017F;tande des Krieges, wo es mit der &#x017F;. g.<lb/>
Kriegsrä&#x017F;on identi&#x017F;ch i&#x017F;t; und<lb/>
Zweitens: im Fall eines wirklichen Noth&#x017F;tandes, wo es<lb/>
identi&#x017F;ch i&#x017F;t mit dem &#x017F;. g. Nothrecht oder äußer&#x017F;ten Recht der<lb/>
Staaten, &#x017F;ich in der Gefahr eines bevor&#x017F;tehenden Verlu&#x017F;tes<lb/>
der Exi&#x017F;tenz oder eines einzelnen be&#x017F;timmten Rechtes, &#x017F;elb&#x017F;t auf<lb/>
Ko&#x017F;ten und mit Verletzung Anderer, die Exi&#x017F;tenz und unter-<lb/>
&#x017F;cheidungswei&#x017F;e das gefährdete Recht zu retten.</hi></p><lb/>
              <p>Keine die&#x017F;er beiden Arten legitimer Convenienz i&#x017F;t jedoch völlig<lb/>
regellos, wie weiterhin gezeigt werden &#x017F;oll. <note place="foot" n="1">Man &#x017F;. über das &#x017F;. g. Convenienzrecht Mo&#x017F;er, Beitr. <hi rendition="#aq">I,</hi> 5. F. H. Stru-<lb/>
ben, Abh. von d. Kriegsrai&#x017F;on und dem Convenienzrecht, in d. Samml.<lb/>
auserl. jur. Abh. Leipz. 1768. S. 31 f. Verhandlungen darüber haben<lb/>
am Deut&#x017F;chen Bundestage im J. 1821 Statt gefunden. M. &#x017F;. L. v. Dre&#x017F;ch<lb/>
Abh. über Gegen&#x017F;t. des öffentl. R. 1830. Nr. 1. Heffter, Beitr. z. d.<lb/>
Staats- u. Priv.-Für&#x017F;tenr. S. 184. Klüber, öffentl. R. des D. Bundes<lb/>
§. 175.</note></p><lb/>
              <div n="5">
                <head>Gleichheit der Staaten.</head><lb/>
                <p>27. Ein &#x017F;ouveräner Staat i&#x017F;t &#x017F;einem Begriff nach überall der-<lb/>
&#x017F;elbe und trägt daher eine vollkommene Rechtsgleichheit aller in &#x017F;ich,<lb/>
ganz abge&#x017F;ehen von der ver&#x017F;chiedenen politi&#x017F;chen Bedeutung jedes<lb/>
einzelnen. Auch der klein&#x017F;te Staat kann &#x017F;onach, gleich dem größe-<lb/>
ren, da&#x017F;&#x017F;elbe Recht mit die&#x017F;em in An&#x017F;pruch nehmen und ausüben,<lb/>
und hat &#x017F;ich keiner Ungleichheit der Behandlung von Seiten eines<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0068] Erſtes Buch. §. 27. Selbſtentwickelung thun und unterlaſſen kann. Dies iſt Gegen- ſtand des inneren Staatsrechts. Zwar iſt auch noch in der äu- ßeren Staatenpraxis oft von einem ſ. g. Convenienzrecht (droit de convenance) die Rede geweſen, als der Befugniß jedes Staa- tes, im Fall collidirender Intereſſen gegen andere Staaten ſo zu verfahren, wie es dem eigenen Intereſſe am angemeſſenſten erachtet wird. Eine ſolche Befugniß hat man jedoch nur, ſofern kein wohl- begründetes Recht des anderen Staates entgegenſteht, was begreif- lich auch auf keinem einſeitigen politiſchen Intereſſe beruhen kann, und es verſteht ſich dann das Handeln nach eigener Convenienz ganz von ſelbſt. Außerdem läßt ſich ein ſolches Handeln und ein Recht dazu nur nachweiſen Einmal: im Zuſtande des Krieges, wo es mit der ſ. g. Kriegsräſon identiſch iſt; und Zweitens: im Fall eines wirklichen Nothſtandes, wo es identiſch iſt mit dem ſ. g. Nothrecht oder äußerſten Recht der Staaten, ſich in der Gefahr eines bevorſtehenden Verluſtes der Exiſtenz oder eines einzelnen beſtimmten Rechtes, ſelbſt auf Koſten und mit Verletzung Anderer, die Exiſtenz und unter- ſcheidungsweiſe das gefährdete Recht zu retten. Keine dieſer beiden Arten legitimer Convenienz iſt jedoch völlig regellos, wie weiterhin gezeigt werden ſoll. 1 Gleichheit der Staaten. 27. Ein ſouveräner Staat iſt ſeinem Begriff nach überall der- ſelbe und trägt daher eine vollkommene Rechtsgleichheit aller in ſich, ganz abgeſehen von der verſchiedenen politiſchen Bedeutung jedes einzelnen. Auch der kleinſte Staat kann ſonach, gleich dem größe- ren, daſſelbe Recht mit dieſem in Anſpruch nehmen und ausüben, und hat ſich keiner Ungleichheit der Behandlung von Seiten eines 1 Man ſ. über das ſ. g. Convenienzrecht Moſer, Beitr. I, 5. F. H. Stru- ben, Abh. von d. Kriegsraiſon und dem Convenienzrecht, in d. Samml. auserl. jur. Abh. Leipz. 1768. S. 31 f. Verhandlungen darüber haben am Deutſchen Bundestage im J. 1821 Statt gefunden. M. ſ. L. v. Dreſch Abh. über Gegenſt. des öffentl. R. 1830. Nr. 1. Heffter, Beitr. z. d. Staats- u. Priv.-Fürſtenr. S. 184. Klüber, öffentl. R. des D. Bundes §. 175.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/68
Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/68>, abgerufen am 23.11.2024.