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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830.

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Ihr Auge sah mich an wie ein wehmüthig
einsamer Stern am herbstlichen Himmel, und
weich und innig sprach sie: Sie scheinen mich
wenig mehr zu lieben, Doktor! Denn nur mit¬
leidig fiel eben Ihre Thräne auf meine Hand,
fast wie ein Almosen.

Wer heißt Sie die stumme Sprache meiner
Thränen so dürftig ausdeuten? Ich wette,
der weiße Jagdhund, der sich jetzt an Sie schmiegt,
versteht mich besser; er schaut mich an, und dann
wieder Sie, und scheint sich zu wundern, daß
die Menschen, die stolzen Herren der Schöpfung,
innerlich so tief elend sind. Ach, Mylady, nur
der verwandte Schmerz entlockt uns die Thräne,
und jeder weint eigentlich für sich selbst.

Genug, genug, Doktor. Es ist wenigstens
gut, daß wir Zeitgenossen sind und in demselben
Erdwinkel uns gefunden mit unseren närrischen
Thränen. Ach des Unglücks ! wenn Sie vielleicht
zweyhundert Jahre früher gelebt hätten, wie es

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Ihr Auge ſah mich an wie ein wehmuͤthig
einſamer Stern am herbſtlichen Himmel, und
weich und innig ſprach ſie: Sie ſcheinen mich
wenig mehr zu lieben, Doktor! Denn nur mit¬
leidig fiel eben Ihre Thraͤne auf meine Hand,
faſt wie ein Almoſen.

Wer heißt Sie die ſtumme Sprache meiner
Thraͤnen ſo duͤrftig ausdeuten? Ich wette,
der weiße Jagdhund, der ſich jetzt an Sie ſchmiegt,
verſteht mich beſſer; er ſchaut mich an, und dann
wieder Sie, und ſcheint ſich zu wundern, daß
die Menſchen, die ſtolzen Herren der Schoͤpfung,
innerlich ſo tief elend ſind. Ach, Mylady, nur
der verwandte Schmerz entlockt uns die Thraͤne,
und jeder weint eigentlich fuͤr ſich ſelbſt.

Genug, genug, Doktor. Es iſt wenigſtens
gut, daß wir Zeitgenoſſen ſind und in demſelben
Erdwinkel uns gefunden mit unſeren naͤrriſchen
Thraͤnen. Ach des Ungluͤcks ! wenn Sie vielleicht
zweyhundert Jahre fruͤher gelebt haͤtten, wie es

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[225/0233] Ihr Auge ſah mich an wie ein wehmuͤthig einſamer Stern am herbſtlichen Himmel, und weich und innig ſprach ſie: Sie ſcheinen mich wenig mehr zu lieben, Doktor! Denn nur mit¬ leidig fiel eben Ihre Thraͤne auf meine Hand, faſt wie ein Almoſen. Wer heißt Sie die ſtumme Sprache meiner Thraͤnen ſo duͤrftig ausdeuten? Ich wette, der weiße Jagdhund, der ſich jetzt an Sie ſchmiegt, verſteht mich beſſer; er ſchaut mich an, und dann wieder Sie, und ſcheint ſich zu wundern, daß die Menſchen, die ſtolzen Herren der Schoͤpfung, innerlich ſo tief elend ſind. Ach, Mylady, nur der verwandte Schmerz entlockt uns die Thraͤne, und jeder weint eigentlich fuͤr ſich ſelbſt. Genug, genug, Doktor. Es iſt wenigſtens gut, daß wir Zeitgenoſſen ſind und in demſelben Erdwinkel uns gefunden mit unſeren naͤrriſchen Thraͤnen. Ach des Ungluͤcks ! wenn Sie vielleicht zweyhundert Jahre fruͤher gelebt haͤtten, wie es 15

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/233>, abgerufen am 24.11.2024.