Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: [Rezension:] Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel. 2 Theile. Stuttgart, bei Gebrüder Frankh. 1828. In: Neue allgemeine politische Annalen, Band 27, Heft 3 (1828), S. 284–298.

Bild:
<< vorherige Seite

Jdeen sind bestanden. Die Geschichte war nur die Schule
der Prinzipien. Das vorige Jahrhundert war reicher an
voraussichtigen Spekulationen, das gegenwärtige ist reicher
an Rücksichten und Erfahrungsgrundsätzen. Jn beiden liegen
die Hebel der Begebenheiten, durch sie wird Alles erklärt, was
geschehen ist."

"Es gibt nur zwei Prinzipe oder entgegengesezte Pole
der politischen Welt, und an beiden Endpunkten der großen
Achse haben die Parteien sich gelagert, und bekämpfen sich
mit steigender Erbitterung. Zwar gilt nicht jedes Zeichen der
Partei für jeden ihrer Anhänger, zwar wissen Manche kaum,
daß sie zu dieser bestimmten Partei gehören, zwar bekämpfen
sich die Glieder einer Partei unter einander selbst, sofern sie
aus ein und demselben Prinzip verschiedene Folgerungen zie-
hen; im Allgemeinen aber muß der subtilste Kritiker so gut
wie das gemeine Zeitungspublikum einen Strich ziehen zwi-
schen Liberalismus und Servilismus, Republikanis-
mus und Autokratie. Welches auch die Nüanzen seyn mögen,
jenes claire obscure und jene bis zur Farblosigkeit gemischten
Tinten, in welche beide Hauptfarben in einander übergehen,
diese Hauptfarben selbst verbargen sich nirgends, sie bilden den
großen, den einzigen Gegensatz in der Politik, und man sieht
sie den Menschen wie den Büchern gewöhnlich auf den ersten
Blick an. Wohin wir im politischen Gebiet das Auge wer-
fen, trifft es diese Farben an. Sie füllen es ganz aus,
hinter ihnen ist leerer Raum."

"Die liberale Partei ist diejenige, die den politischen
Charakter der neueren Zeit bestimmt, während die sogenannte
servile Partei noch wesentlich im Charakter des Mittelalters
handelt. Der Liberalismus schreitet daher in demselben Maße
fort, wie die Zeit selbst, oder ist in dem Maße gehemmt, wie
die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert.
Er entspricht dem Protestantismus, sofern er gegen das Mit-
telalter protestirt, er ist nur eine neue Entwickelung des Pro-

Jdeen ſind beſtanden. Die Geſchichte war nur die Schule
der Prinzipien. Das vorige Jahrhundert war reicher an
vorausſichtigen Spekulationen, das gegenwärtige iſt reicher
an Rückſichten und Erfahrungsgrundſätzen. Jn beiden liegen
die Hebel der Begebenheiten, durch ſie wird Alles erklärt, was
geſchehen iſt.“

“Es gibt nur zwei Prinzipe oder entgegengeſezte Pole
der politiſchen Welt, und an beiden Endpunkten der großen
Achſe haben die Parteien ſich gelagert, und bekämpfen ſich
mit ſteigender Erbitterung. Zwar gilt nicht jedes Zeichen der
Partei für jeden ihrer Anhänger, zwar wiſſen Manche kaum,
daß ſie zu dieſer beſtimmten Partei gehören, zwar bekämpfen
ſich die Glieder einer Partei unter einander ſelbſt, ſofern ſie
aus ein und demſelben Prinzip verſchiedene Folgerungen zie-
hen; im Allgemeinen aber muß der ſubtilſte Kritiker ſo gut
wie das gemeine Zeitungspublikum einen Strich ziehen zwi-
ſchen Liberalismus und Servilismus, Republikanis-
mus und Autokratie. Welches auch die Nüanzen ſeyn mögen,
jenes claire obscure und jene bis zur Farbloſigkeit gemiſchten
Tinten, in welche beide Hauptfarben in einander übergehen,
dieſe Hauptfarben ſelbſt verbargen ſich nirgends, ſie bilden den
großen, den einzigen Gegenſatz in der Politik, und man ſieht
ſie den Menſchen wie den Büchern gewöhnlich auf den erſten
Blick an. Wohin wir im politiſchen Gebiet das Auge wer-
fen, trifft es dieſe Farben an. Sie füllen es ganz aus,
hinter ihnen iſt leerer Raum.“

„Die liberale Partei iſt diejenige, die den politiſchen
Charakter der neueren Zeit beſtimmt, während die ſogenannte
ſervile Partei noch weſentlich im Charakter des Mittelalters
handelt. Der Liberalismus ſchreitet daher in demſelben Maße
fort, wie die Zeit ſelbst, oder iſt in dem Maße gehemmt, wie
die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert.
Er entſpricht dem Proteſtantismus, ſofern er gegen das Mit-
telalter proteſtirt, er iſt nur eine neue Entwickelung des Pro-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0009" n="291"/>
Jdeen &#x017F;ind be&#x017F;tanden. Die Ge&#x017F;chichte war nur die Schule<lb/>
der Prinzipien. Das vorige Jahrhundert war reicher an<lb/>
voraus&#x017F;ichtigen Spekulationen, das gegenwärtige i&#x017F;t reicher<lb/>
an Rück&#x017F;ichten und Erfahrungsgrund&#x017F;ätzen. Jn beiden liegen<lb/>
die Hebel der Begebenheiten, durch &#x017F;ie wird Alles erklärt, was<lb/>
ge&#x017F;chehen i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201C;Es gibt nur zwei Prinzipe oder entgegenge&#x017F;ezte Pole<lb/>
der politi&#x017F;chen Welt, und an beiden Endpunkten der großen<lb/>
Ach&#x017F;e haben die <hi rendition="#g">Parteien</hi> &#x017F;ich gelagert, und bekämpfen &#x017F;ich<lb/>
mit &#x017F;teigender Erbitterung. Zwar gilt nicht jedes Zeichen der<lb/>
Partei für jeden ihrer Anhänger, zwar wi&#x017F;&#x017F;en Manche kaum,<lb/>
daß &#x017F;ie zu die&#x017F;er be&#x017F;timmten Partei gehören, zwar bekämpfen<lb/>
&#x017F;ich die Glieder einer Partei unter einander &#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;ofern &#x017F;ie<lb/>
aus ein und dem&#x017F;elben Prinzip ver&#x017F;chiedene Folgerungen zie-<lb/>
hen; im Allgemeinen aber muß der &#x017F;ubtil&#x017F;te Kritiker &#x017F;o gut<lb/>
wie das gemeine Zeitungspublikum einen Strich ziehen zwi-<lb/>
&#x017F;chen <hi rendition="#g">Liberalismus</hi> und <hi rendition="#g">Servilismus</hi>, Republikanis-<lb/>
mus und Autokratie. Welches auch die Nüanzen &#x017F;eyn mögen,<lb/>
jenes <hi rendition="#aq">claire obscure</hi> und jene bis zur Farblo&#x017F;igkeit gemi&#x017F;chten<lb/>
Tinten, in welche beide Hauptfarben in einander übergehen,<lb/>
die&#x017F;e Hauptfarben &#x017F;elb&#x017F;t verbargen &#x017F;ich nirgends, &#x017F;ie bilden den<lb/>
großen, den einzigen Gegen&#x017F;atz in der Politik, und man &#x017F;ieht<lb/>
&#x017F;ie den Men&#x017F;chen wie den Büchern gewöhnlich auf den er&#x017F;ten<lb/>
Blick an. Wohin wir im politi&#x017F;chen Gebiet das Auge wer-<lb/>
fen, trifft es die&#x017F;e Farben an. Sie füllen es ganz aus,<lb/>
hinter ihnen i&#x017F;t leerer Raum.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die liberale Partei i&#x017F;t diejenige, die den politi&#x017F;chen<lb/>
Charakter der neueren Zeit be&#x017F;timmt, während die &#x017F;ogenannte<lb/>
&#x017F;ervile Partei noch we&#x017F;entlich im Charakter des Mittelalters<lb/>
handelt. Der Liberalismus &#x017F;chreitet daher in dem&#x017F;elben Maße<lb/>
fort, wie die Zeit &#x017F;elbst, oder i&#x017F;t in dem Maße gehemmt, wie<lb/>
die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert.<lb/>
Er ent&#x017F;pricht dem Prote&#x017F;tantismus, &#x017F;ofern er gegen das Mit-<lb/>
telalter prote&#x017F;tirt, er i&#x017F;t nur eine neue Entwickelung des Pro-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[291/0009] Jdeen ſind beſtanden. Die Geſchichte war nur die Schule der Prinzipien. Das vorige Jahrhundert war reicher an vorausſichtigen Spekulationen, das gegenwärtige iſt reicher an Rückſichten und Erfahrungsgrundſätzen. Jn beiden liegen die Hebel der Begebenheiten, durch ſie wird Alles erklärt, was geſchehen iſt.“ “Es gibt nur zwei Prinzipe oder entgegengeſezte Pole der politiſchen Welt, und an beiden Endpunkten der großen Achſe haben die Parteien ſich gelagert, und bekämpfen ſich mit ſteigender Erbitterung. Zwar gilt nicht jedes Zeichen der Partei für jeden ihrer Anhänger, zwar wiſſen Manche kaum, daß ſie zu dieſer beſtimmten Partei gehören, zwar bekämpfen ſich die Glieder einer Partei unter einander ſelbſt, ſofern ſie aus ein und demſelben Prinzip verſchiedene Folgerungen zie- hen; im Allgemeinen aber muß der ſubtilſte Kritiker ſo gut wie das gemeine Zeitungspublikum einen Strich ziehen zwi- ſchen Liberalismus und Servilismus, Republikanis- mus und Autokratie. Welches auch die Nüanzen ſeyn mögen, jenes claire obscure und jene bis zur Farbloſigkeit gemiſchten Tinten, in welche beide Hauptfarben in einander übergehen, dieſe Hauptfarben ſelbſt verbargen ſich nirgends, ſie bilden den großen, den einzigen Gegenſatz in der Politik, und man ſieht ſie den Menſchen wie den Büchern gewöhnlich auf den erſten Blick an. Wohin wir im politiſchen Gebiet das Auge wer- fen, trifft es dieſe Farben an. Sie füllen es ganz aus, hinter ihnen iſt leerer Raum.“ „Die liberale Partei iſt diejenige, die den politiſchen Charakter der neueren Zeit beſtimmt, während die ſogenannte ſervile Partei noch weſentlich im Charakter des Mittelalters handelt. Der Liberalismus ſchreitet daher in demſelben Maße fort, wie die Zeit ſelbst, oder iſt in dem Maße gehemmt, wie die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert. Er entſpricht dem Proteſtantismus, ſofern er gegen das Mit- telalter proteſtirt, er iſt nur eine neue Entwickelung des Pro-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Rudolf Brandmeyer: Herausgeber
Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer): Bereitstellung der Texttranskription. (2017-10-25T12:22:51Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Magdalena Schulze, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T12:28:07Z)

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_rezension_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_rezension_1828/9
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: [Rezension:] Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel. 2 Theile. Stuttgart, bei Gebrüder Frankh. 1828. In: Neue allgemeine politische Annalen, Band 27, Heft 3 (1828), S. 284–298, hier S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_rezension_1828/9>, abgerufen am 21.11.2024.