zu empfinden und zu handeln; nur war er rei- cher und stärker an Natur als ich, seine Seele voller, aber auch unbändiger, und seine Geburt warf ihn in andre Umstände, unter andre Men- schen, in eine andre Laufbahn. Wer einen Freund ohne Fehler finden will, der mache sich aus dieser Welt heraus, oder geh in sich selbst zurück; die Vollkommenheit erscheint hienieden mir in Augenblicken, und diese allein sind unser Genuß. Ein großer Geist, ein edel Herz wiegt manches Laster auf, wohinein uns die Schlechtigkeit bürgerlicher Verfassungen stürzt.
"Wir schieden gestern von einander wie im Rausche; trat er ins Zimmer. Glück ist die größte Gabe, die Sterblichen zu Theil werden kann, nur muß man es mit Verstand brauchen."
Nachdem wir einigemal stillschweigend auf- und abgegangen waren, fragte er mich: "habt ihr nie etwas von Kunst getrieben?" Ich antwortete ihm, daß ich nach der hiesigen Erziehung zeich-
nen
zu empfinden und zu handeln; nur war er rei- cher und ſtaͤrker an Natur als ich, ſeine Seele voller, aber auch unbaͤndiger, und ſeine Geburt warf ihn in andre Umſtaͤnde, unter andre Men- ſchen, in eine andre Laufbahn. Wer einen Freund ohne Fehler finden will, der mache ſich aus dieſer Welt heraus, oder geh in ſich ſelbſt zuruͤck; die Vollkommenheit erſcheint hienieden mir in Augenblicken, und dieſe allein ſind unſer Genuß. Ein großer Geiſt, ein edel Herz wiegt manches Laſter auf, wohinein uns die Schlechtigkeit buͤrgerlicher Verfaſſungen ſtuͤrzt.
„Wir ſchieden geſtern von einander wie im Rauſche; trat er ins Zimmer. Gluͤck iſt die groͤßte Gabe, die Sterblichen zu Theil werden kann, nur muß man es mit Verſtand brauchen.“
Nachdem wir einigemal ſtillſchweigend auf- und abgegangen waren, fragte er mich: „habt ihr nie etwas von Kunſt getrieben?„ Ich antwortete ihm, daß ich nach der hieſigen Erziehung zeich-
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zu empfinden und zu handeln; nur war er rei-
cher und ſtaͤrker an Natur als ich, ſeine Seele
voller, aber auch unbaͤndiger, und ſeine Geburt
warf ihn in andre Umſtaͤnde, unter andre Men-
ſchen, in eine andre Laufbahn. Wer einen
Freund ohne Fehler finden will, der mache ſich
aus dieſer Welt heraus, oder geh in ſich ſelbſt
zuruͤck; die Vollkommenheit erſcheint hienieden
mir in Augenblicken, und dieſe allein ſind unſer
Genuß. Ein großer Geiſt, ein edel Herz
wiegt manches Laſter auf, wohinein uns die
Schlechtigkeit buͤrgerlicher Verfaſſungen ſtuͤrzt.
„Wir ſchieden geſtern von einander wie im
Rauſche; trat er ins Zimmer. Gluͤck iſt die
groͤßte Gabe, die Sterblichen zu Theil werden
kann, nur muß man es mit Verſtand brauchen.“
Nachdem wir einigemal ſtillſchweigend auf-
und abgegangen waren, fragte er mich: „habt ihr
nie etwas von Kunſt getrieben?„ Ich antwortete
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/42>, abgerufen am 21.11.2024.
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