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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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und Mechanik, welcher die Lehre von den räumlichen
Kräften beherrscht, auch hier wieder finden. Denn das
Gleichgewicht, im Gegensatze der noch fortgehenden
Bewegung vermöge des Uebergewichts einiger Kräfte
über die andern, -- ist dasjenige, was auch in Hinsicht
der wider einander wirkenden Vorstellungen sich zuerst
darbietet, und sich am leichtesten bestimmen lässt. Die
obige Frage, wie gross, bey gegebener Stärke und gege-
benem Gegensatze mehrerer Vorstellungen, die Verdun-
kelung einer jeden seyn werde, ist offenbar eine statische
Frage; denn es wird eine solche Hemmung einer jeden
gesucht, bey welcher dem Gegensatze Genüge geschieht,
und die Kräfte nicht weiter gegen einander etwas aus-
richten können. Allein falls ein solcher gehemmter Zu-
stand einer jeden Vorstellung nicht etwan plötzlich, son-
dern, wie schon zu vermuthen, allmählig eintritt, so ent-
steht nun noch eine ganz andre Untersuchung, nämlich
mit welcher, sey es gleichbleibenden, sey es veränderli-
chen Geschwindigkeit, die Verdunkelung fortdauernd
geschehen, und in welcher Zeit sie geendigt seyn werde.
Diese letztre Frage erkennt man ohne Zweifel sogleich
für eine mechanische Frage.

Die angeführten Beyspiele können hinreichen, um
die Aehnlichkeit einer Mechanik des Geistes mit der Me-
chanik der Körperwelt im Allgemeinen wahrzunehmen.
Allein über der Aehnlichkeit darf die Verschiedenheit
nicht übersehen werden. Wir haben hier keine räumliche
Zusammensetzung und Zerlegung der Kräfte; wir haben
keine Winkel, also keine Sinus und Cosinus, und keine
drehende Bewegung; wir haben keinen unendlichen Raum,
sondern alle Bewegung der Vorstellungen ist zwischen
zwey vesten Puncten eingeschlossen, ihrem völlig gehemm-
ten, und ihrem völlig ungehemmten Zustande; wir haben
endlich gar kein beharrliches Fortgehen des Bewegten,
folglich auch keine ähnliche Beschleunigung, wie in der
Mechanik der Körper, denn jede augenblickliche Bewe-
gung einer Vorstellung ist das unmittelbare Resultat der

und Mechanik, welcher die Lehre von den räumlichen
Kräften beherrscht, auch hier wieder finden. Denn das
Gleichgewicht, im Gegensatze der noch fortgehenden
Bewegung vermöge des Uebergewichts einiger Kräfte
über die andern, — ist dasjenige, was auch in Hinsicht
der wider einander wirkenden Vorstellungen sich zuerst
darbietet, und sich am leichtesten bestimmen läſst. Die
obige Frage, wie groſs, bey gegebener Stärke und gege-
benem Gegensatze mehrerer Vorstellungen, die Verdun-
kelung einer jeden seyn werde, ist offenbar eine statische
Frage; denn es wird eine solche Hemmung einer jeden
gesucht, bey welcher dem Gegensatze Genüge geschieht,
und die Kräfte nicht weiter gegen einander etwas aus-
richten können. Allein falls ein solcher gehemmter Zu-
stand einer jeden Vorstellung nicht etwan plötzlich, son-
dern, wie schon zu vermuthen, allmählig eintritt, so ent-
steht nun noch eine ganz andre Untersuchung, nämlich
mit welcher, sey es gleichbleibenden, sey es veränderli-
chen Geschwindigkeit, die Verdunkelung fortdauernd
geschehen, und in welcher Zeit sie geendigt seyn werde.
Diese letztre Frage erkennt man ohne Zweifel sogleich
für eine mechanische Frage.

Die angeführten Beyspiele können hinreichen, um
die Aehnlichkeit einer Mechanik des Geistes mit der Me-
chanik der Körperwelt im Allgemeinen wahrzunehmen.
Allein über der Aehnlichkeit darf die Verschiedenheit
nicht übersehen werden. Wir haben hier keine räumliche
Zusammensetzung und Zerlegung der Kräfte; wir haben
keine Winkel, also keine Sinus und Cosinus, und keine
drehende Bewegung; wir haben keinen unendlichen Raum,
sondern alle Bewegung der Vorstellungen ist zwischen
zwey vesten Puncten eingeschlossen, ihrem völlig gehemm-
ten, und ihrem völlig ungehemmten Zustande; wir haben
endlich gar kein beharrliches Fortgehen des Bewegten,
folglich auch keine ähnliche Beschleunigung, wie in der
Mechanik der Körper, denn jede augenblickliche Bewe-
gung einer Vorstellung ist das unmittelbare Resultat der

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[156/0176] und Mechanik, welcher die Lehre von den räumlichen Kräften beherrscht, auch hier wieder finden. Denn das Gleichgewicht, im Gegensatze der noch fortgehenden Bewegung vermöge des Uebergewichts einiger Kräfte über die andern, — ist dasjenige, was auch in Hinsicht der wider einander wirkenden Vorstellungen sich zuerst darbietet, und sich am leichtesten bestimmen läſst. Die obige Frage, wie groſs, bey gegebener Stärke und gege- benem Gegensatze mehrerer Vorstellungen, die Verdun- kelung einer jeden seyn werde, ist offenbar eine statische Frage; denn es wird eine solche Hemmung einer jeden gesucht, bey welcher dem Gegensatze Genüge geschieht, und die Kräfte nicht weiter gegen einander etwas aus- richten können. Allein falls ein solcher gehemmter Zu- stand einer jeden Vorstellung nicht etwan plötzlich, son- dern, wie schon zu vermuthen, allmählig eintritt, so ent- steht nun noch eine ganz andre Untersuchung, nämlich mit welcher, sey es gleichbleibenden, sey es veränderli- chen Geschwindigkeit, die Verdunkelung fortdauernd geschehen, und in welcher Zeit sie geendigt seyn werde. Diese letztre Frage erkennt man ohne Zweifel sogleich für eine mechanische Frage. Die angeführten Beyspiele können hinreichen, um die Aehnlichkeit einer Mechanik des Geistes mit der Me- chanik der Körperwelt im Allgemeinen wahrzunehmen. Allein über der Aehnlichkeit darf die Verschiedenheit nicht übersehen werden. Wir haben hier keine räumliche Zusammensetzung und Zerlegung der Kräfte; wir haben keine Winkel, also keine Sinus und Cosinus, und keine drehende Bewegung; wir haben keinen unendlichen Raum, sondern alle Bewegung der Vorstellungen ist zwischen zwey vesten Puncten eingeschlossen, ihrem völlig gehemm- ten, und ihrem völlig ungehemmten Zustande; wir haben endlich gar kein beharrliches Fortgehen des Bewegten, folglich auch keine ähnliche Beschleunigung, wie in der Mechanik der Körper, denn jede augenblickliche Bewe- gung einer Vorstellung ist das unmittelbare Resultat der

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/176>, abgerufen am 21.11.2024.