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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Dinge! Gerade so hatte die Sinnlichkeit eher die leeren
Undinge, Raum und Zeit, als das Räumliche und das
Zeitliche! Aber Realität, Substantialität, Wirklichkeit
u. s. f., sind nichts als abstracte, und, wie die Geschichte
der Metaphysik bezeugt, sehr dunkle Begriffe, die, wenn
sie zu den Anschauungen gleichsam als eine fremde Zu-
that hinzukämen, ihnen den sehr schlechten Dienst lei-
sten würden, sie zu verfinstern und zu verwirren, anstatt
sie zu ordnen und verständlich oder verständig zu ma-
chen. Ist der Verstand ein Vermögen, die Anschauun-
gen zu verderben? Ihrer Klarheit ein trübes Element bey-
zumischen? Dass für ihn zu fürchten sey, er werde im
Vergleich mit der Sinnlichkeit verlieren, scheint Kant
gefühlt zu haben; denn sonst lag ihm die Versuchung
sehr nahe, seine transscendentale Logik und Aesthetik
ganz analog und parallel abzufassen. Den bekannten vier
Sätzen der metaphysischen Erörterung über Raum und
Zeit wären dann folgende vier Behauptungen gegenüber
getreten:

1) Damit gewisse Empfindungen als Attribute auf
eine Substanz, als Wirkungen auf eine Kraft u. s. w.
bezogen werden, dazu müssen die Vorstellungen von Sub-
stanz, Kraft u. s. f., schon zum Grunde liegen.

2) Substanz, Kraft, Reales, Nothwendiges u. s. f.,
sind nothwendige Vorstellungen a priori. Man kann
sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass gar
Nichts sey und wirke, obgleich man sich ganz wohl den-
ken kann, dass jedes einzelne Ding, jede einzelne Thä-
tigkeit aufgehoben würde.

3) Substanz, Realität, Kraft u. s. w., sind keine dis-
cursiven, allgemeinen Begriffe, sondern reine Anschauun-
gen. Denn erstlich kann man sich nur eine einzige Sub-
stanz vorstellen; und wenn man von vielen Substanzen
redet, so verstehet man darunter nur Theile einer und der-
selben alleinigen Substanz. Diese Theile können auch nicht
vor der einigen allbefassenden Substanz gleichsam als
deren Bestandtheile (daraus ihre Zusammensetzung mög-

lich

Dinge! Gerade so hatte die Sinnlichkeit eher die leeren
Undinge, Raum und Zeit, als das Räumliche und das
Zeitliche! Aber Realität, Substantialität, Wirklichkeit
u. s. f., sind nichts als abstracte, und, wie die Geschichte
der Metaphysik bezeugt, sehr dunkle Begriffe, die, wenn
sie zu den Anschauungen gleichsam als eine fremde Zu-
that hinzukämen, ihnen den sehr schlechten Dienst lei-
sten würden, sie zu verfinstern und zu verwirren, anstatt
sie zu ordnen und verständlich oder verständig zu ma-
chen. Ist der Verstand ein Vermögen, die Anschauun-
gen zu verderben? Ihrer Klarheit ein trübes Element bey-
zumischen? Daſs für ihn zu fürchten sey, er werde im
Vergleich mit der Sinnlichkeit verlieren, scheint Kant
gefühlt zu haben; denn sonst lag ihm die Versuchung
sehr nahe, seine transscendentale Logik und Aesthetik
ganz analog und parallel abzufassen. Den bekannten vier
Sätzen der metaphysischen Erörterung über Raum und
Zeit wären dann folgende vier Behauptungen gegenüber
getreten:

1) Damit gewisse Empfindungen als Attribute auf
eine Substanz, als Wirkungen auf eine Kraft u. s. w.
bezogen werden, dazu müssen die Vorstellungen von Sub-
stanz, Kraft u. s. f., schon zum Grunde liegen.

2) Substanz, Kraft, Reales, Nothwendiges u. s. f.,
sind nothwendige Vorstellungen a priori. Man kann
sich niemals eine Vorstellung davon machen, daſs gar
Nichts sey und wirke, obgleich man sich ganz wohl den-
ken kann, daſs jedes einzelne Ding, jede einzelne Thä-
tigkeit aufgehoben würde.

3) Substanz, Realität, Kraft u. s. w., sind keine dis-
cursiven, allgemeinen Begriffe, sondern reine Anschauun-
gen. Denn erstlich kann man sich nur eine einzige Sub-
stanz vorstellen; und wenn man von vielen Substanzen
redet, so verstehet man darunter nur Theile einer und der-
selben alleinigen Substanz. Diese Theile können auch nicht
vor der einigen allbefassenden Substanz gleichsam als
deren Bestandtheile (daraus ihre Zusammensetzung mög-

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[384/0404] Dinge! Gerade so hatte die Sinnlichkeit eher die leeren Undinge, Raum und Zeit, als das Räumliche und das Zeitliche! Aber Realität, Substantialität, Wirklichkeit u. s. f., sind nichts als abstracte, und, wie die Geschichte der Metaphysik bezeugt, sehr dunkle Begriffe, die, wenn sie zu den Anschauungen gleichsam als eine fremde Zu- that hinzukämen, ihnen den sehr schlechten Dienst lei- sten würden, sie zu verfinstern und zu verwirren, anstatt sie zu ordnen und verständlich oder verständig zu ma- chen. Ist der Verstand ein Vermögen, die Anschauun- gen zu verderben? Ihrer Klarheit ein trübes Element bey- zumischen? Daſs für ihn zu fürchten sey, er werde im Vergleich mit der Sinnlichkeit verlieren, scheint Kant gefühlt zu haben; denn sonst lag ihm die Versuchung sehr nahe, seine transscendentale Logik und Aesthetik ganz analog und parallel abzufassen. Den bekannten vier Sätzen der metaphysischen Erörterung über Raum und Zeit wären dann folgende vier Behauptungen gegenüber getreten: 1) Damit gewisse Empfindungen als Attribute auf eine Substanz, als Wirkungen auf eine Kraft u. s. w. bezogen werden, dazu müssen die Vorstellungen von Sub- stanz, Kraft u. s. f., schon zum Grunde liegen. 2) Substanz, Kraft, Reales, Nothwendiges u. s. f., sind nothwendige Vorstellungen a priori. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daſs gar Nichts sey und wirke, obgleich man sich ganz wohl den- ken kann, daſs jedes einzelne Ding, jede einzelne Thä- tigkeit aufgehoben würde. 3) Substanz, Realität, Kraft u. s. w., sind keine dis- cursiven, allgemeinen Begriffe, sondern reine Anschauun- gen. Denn erstlich kann man sich nur eine einzige Sub- stanz vorstellen; und wenn man von vielen Substanzen redet, so verstehet man darunter nur Theile einer und der- selben alleinigen Substanz. Diese Theile können auch nicht vor der einigen allbefassenden Substanz gleichsam als deren Bestandtheile (daraus ihre Zusammensetzung mög- lich

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/404>, abgerufen am 22.11.2024.