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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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gen der äussersten Leichtigkeit, in ein solches Factum
durch Erschleichung etwas hineinzuschieben. Und wie
Viele sind denn wohl, die noch jetzt an den Kanti-
schen
kategorischen Imperativ, als an ein unentstelltes,
und durch Kants Formel richtig ausgesprochenes Factum,
in vollem Ernste glauben mögen? Wie geht es zu, dass
ein so allgemeines, in jeder Menschenbrust sich wieder-
hohlendes, Factum, nicht längst, durch edle Männer,
welche zugleich vortreffliche Denker waren, genau und
ganz zu Tage gefördert war? -- Diese Fragen verschwin-
den, sobald man erwägt, dass keineswegs von einem schon
geschehenen, sondern von einem bevorstehenden
Factum die Rede ist, indem man zur praktischen Philo-
sophie den Grund legt. Hier muss der Zuhörer, als
ob er vom Sittlichen noch nichts wüsste, in den
Fall gesetzt werden, dass er es eben jetzt mit
völliger Evidenz in sich hervorbringe
. Und dies
geschieht, indem man ihm gehörig darstellt, was, wäh-
rend der Betrachtung, ihm ein unmittelbares Urtheil ab-
zugewinnen nicht verfehlen kann.

Allein jetzo, im gegenwärtigen psychologischen
Zusammenhange, sprechen wir allerdings vom Sittlichen
als von einem schon Vorhandenen und längst Vorgefun-
denen. Die Beurtheilung, welche im Vortrage der prak-
tischen Philosophie ganz von vorn an hervorgebracht
wird, ist gerade so, bey tausend Vorfällen des täglichen
Lebens; -- sie ist vor Jahrtausenden von Millionen Men-
schen vollzogen worden; nur ist sie nicht in abstracte
Ausdrücke gebracht, sondern sie ist kleben geblieben an
den Neben-Umständen der einzelnen Fälle. Darum ist
sie in dem Strome der Zeit und der Meinung bald un-
tergetaucht, bald wieder hervorgekommen; sie hat müs-
sen vielfältig, und bey den dringendsten Angelegenheiten
wiederhohlt werden, ehe sie ein passendes Wort, ehe sie
Auctorität gewinnen konnte.

Dass aber die sittlichen Maximen Auctorität bekom-
men müssen: dies macht sich als das lebhafteste Be-

dürfniss

gen der äuſsersten Leichtigkeit, in ein solches Factum
durch Erschleichung etwas hineinzuschieben. Und wie
Viele sind denn wohl, die noch jetzt an den Kanti-
schen
kategorischen Imperativ, als an ein unentstelltes,
und durch Kants Formel richtig ausgesprochenes Factum,
in vollem Ernste glauben mögen? Wie geht es zu, daſs
ein so allgemeines, in jeder Menschenbrust sich wieder-
hohlendes, Factum, nicht längst, durch edle Männer,
welche zugleich vortreffliche Denker waren, genau und
ganz zu Tage gefördert war? — Diese Fragen verschwin-
den, sobald man erwägt, daſs keineswegs von einem schon
geschehenen, sondern von einem bevorstehenden
Factum die Rede ist, indem man zur praktischen Philo-
sophie den Grund legt. Hier muſs der Zuhörer, als
ob er vom Sittlichen noch nichts wüſste, in den
Fall gesetzt werden, daſs er es eben jetzt mit
völliger Evidenz in sich hervorbringe
. Und dies
geschieht, indem man ihm gehörig darstellt, was, wäh-
rend der Betrachtung, ihm ein unmittelbares Urtheil ab-
zugewinnen nicht verfehlen kann.

Allein jetzo, im gegenwärtigen psychologischen
Zusammenhange, sprechen wir allerdings vom Sittlichen
als von einem schon Vorhandenen und längst Vorgefun-
denen. Die Beurtheilung, welche im Vortrage der prak-
tischen Philosophie ganz von vorn an hervorgebracht
wird, ist gerade so, bey tausend Vorfällen des täglichen
Lebens; — sie ist vor Jahrtausenden von Millionen Men-
schen vollzogen worden; nur ist sie nicht in abstracte
Ausdrücke gebracht, sondern sie ist kleben geblieben an
den Neben-Umständen der einzelnen Fälle. Darum ist
sie in dem Strome der Zeit und der Meinung bald un-
tergetaucht, bald wieder hervorgekommen; sie hat müs-
sen vielfältig, und bey den dringendsten Angelegenheiten
wiederhohlt werden, ehe sie ein passendes Wort, ehe sie
Auctorität gewinnen konnte.

Daſs aber die sittlichen Maximen Auctorität bekom-
men müssen: dies macht sich als das lebhafteste Be-

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[416/0451] gen der äuſsersten Leichtigkeit, in ein solches Factum durch Erschleichung etwas hineinzuschieben. Und wie Viele sind denn wohl, die noch jetzt an den Kanti- schen kategorischen Imperativ, als an ein unentstelltes, und durch Kants Formel richtig ausgesprochenes Factum, in vollem Ernste glauben mögen? Wie geht es zu, daſs ein so allgemeines, in jeder Menschenbrust sich wieder- hohlendes, Factum, nicht längst, durch edle Männer, welche zugleich vortreffliche Denker waren, genau und ganz zu Tage gefördert war? — Diese Fragen verschwin- den, sobald man erwägt, daſs keineswegs von einem schon geschehenen, sondern von einem bevorstehenden Factum die Rede ist, indem man zur praktischen Philo- sophie den Grund legt. Hier muſs der Zuhörer, als ob er vom Sittlichen noch nichts wüſste, in den Fall gesetzt werden, daſs er es eben jetzt mit völliger Evidenz in sich hervorbringe. Und dies geschieht, indem man ihm gehörig darstellt, was, wäh- rend der Betrachtung, ihm ein unmittelbares Urtheil ab- zugewinnen nicht verfehlen kann. Allein jetzo, im gegenwärtigen psychologischen Zusammenhange, sprechen wir allerdings vom Sittlichen als von einem schon Vorhandenen und längst Vorgefun- denen. Die Beurtheilung, welche im Vortrage der prak- tischen Philosophie ganz von vorn an hervorgebracht wird, ist gerade so, bey tausend Vorfällen des täglichen Lebens; — sie ist vor Jahrtausenden von Millionen Men- schen vollzogen worden; nur ist sie nicht in abstracte Ausdrücke gebracht, sondern sie ist kleben geblieben an den Neben-Umständen der einzelnen Fälle. Darum ist sie in dem Strome der Zeit und der Meinung bald un- tergetaucht, bald wieder hervorgekommen; sie hat müs- sen vielfältig, und bey den dringendsten Angelegenheiten wiederhohlt werden, ehe sie ein passendes Wort, ehe sie Auctorität gewinnen konnte. Daſs aber die sittlichen Maximen Auctorität bekom- men müssen: dies macht sich als das lebhafteste Be- dürfniſs

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/451>, abgerufen am 22.11.2024.