Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

regung derer, welche durch Wahrnehmungen mehr aus der
Mitte des Gesichtsfeldes verstärkt werden, und eine zahl-
lose Menge von einander durchkreuzenden Reproductionen
verbunden, für die wir gar keine Worte würden finden kön-
nen, wenn sie uns im gebildeten Zustande noch neu wären.
Auch der Blindgeborne, der später zum Sehen gelangt,
kennt schon den Raum, denn sein Tasten bereitet ihm ähn-
liche Reproductions-Folgen, wie das Gesicht sie bequemer
und schneller liefert. Man sieht hier, wie zwey so verschie-
dene Sinne einerley Resultat ergeben können.

174. Die Vorstellung des Räumlichen erfodert eine
Succession in dem Actus des Vorstellens, denn sie beruht
auf eben jetzt geschehenden Reproductionen. Dabey ist zwey-
erley zu bemerken:

1) Die Succession im Vorstellen ist nicht eine vor-
gestellte Succession; und

2) sie bedarf keiner endlichen Dauer, sondern nur einer
unmerklich kleinen Zeit; besonders da beym Umherwandeln
des Auges in seinem Gesichtsfelde zahllose Ausfassungen des
Farbigten in jedem Augenblicke zugleich entstehen, und zu-
gleich verstärkend und aufregend auf die zuvor gewonnenen
Vorstellungen wirken. Das räumliche Sehen schließt eine
unendliche Menge von unendlich schwachen, gleichzeitigen
Reproductionen in sich, die sich mit den momentanen Auf-
fassungen vereinigen, welche letztern für sich allein nicht
räumlich seyn würden. Da nun zu diesem Behufe keine
einzelne Reproductionsfolge in einer merklichen Länge abzu-
laufen braucht, so ist auch keine endliche Zeit dazu nöthig;
und deshalb scheint es uns, als ob räumliche An-
schauungen ganz simultan, und von allem Zeit-
verlaufe frey wären
.

175. Um die Wahrnehmungen des Raumlichen von

regung derer, welche durch Wahrnehmungen mehr aus der
Mitte des Gesichtsfeldes verstärkt werden, und eine zahl-
lose Menge von einander durchkreuzenden Reproductionen
verbunden, für die wir gar keine Worte würden finden kön-
nen, wenn sie uns im gebildeten Zustande noch neu wären.
Auch der Blindgeborne, der später zum Sehen gelangt,
kennt schon den Raum, denn sein Tasten bereitet ihm ähn-
liche Reproductions-Folgen, wie das Gesicht sie bequemer
und schneller liefert. Man sieht hier, wie zwey so verschie-
dene Sinne einerley Resultat ergeben können.

174. Die Vorstellung des Räumlichen erfodert eine
Succession in dem Actus des Vorstellens, denn sie beruht
auf eben jetzt geschehenden Reproductionen. Dabey ist zwey-
erley zu bemerken:

1) Die Succession im Vorstellen ist nicht eine vor-
gestellte Succession; und

2) sie bedarf keiner endlichen Dauer, sondern nur einer
unmerklich kleinen Zeit; besonders da beym Umherwandeln
des Auges in seinem Gesichtsfelde zahllose Ausfassungen des
Farbigten in jedem Augenblicke zugleich entstehen, und zu-
gleich verstärkend und aufregend auf die zuvor gewonnenen
Vorstellungen wirken. Das räumliche Sehen schließt eine
unendliche Menge von unendlich schwachen, gleichzeitigen
Reproductionen in sich, die sich mit den momentanen Auf-
fassungen vereinigen, welche letztern für sich allein nicht
räumlich seyn würden. Da nun zu diesem Behufe keine
einzelne Reproductionsfolge in einer merklichen Länge abzu-
laufen braucht, so ist auch keine endliche Zeit dazu nöthig;
und deshalb scheint es uns, als ob räumliche An-
schauungen ganz simultan, und von allem Zeit-
verlaufe frey wären
.

175. Um die Wahrnehmungen des Raumlichen von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0144" n="136"/>
regung derer, welche durch Wahrnehmungen mehr aus der<lb/>
Mitte des Gesichtsfeldes verstärkt werden, und eine zahl-<lb/>
lose Menge von
               einander durchkreuzenden Reproductionen<lb/>
verbunden, für die wir gar keine Worte
               würden finden kön-<lb/>
nen, wenn sie uns im gebildeten Zustande noch neu wären.<lb/>
Auch der Blindgeborne, der später zum Sehen gelangt,<lb/>
kennt schon den Raum, denn
               sein Tasten bereitet ihm ähn-<lb/>
liche Reproductions-Folgen, wie das Gesicht sie
               bequemer<lb/>
und schneller liefert. Man sieht hier, wie zwey so verschie-<lb/>
dene
               Sinne einerley Resultat ergeben können.</p><lb/>
            <p>174. Die Vorstellung des Räumlichen erfodert eine<lb/>
Succession in dem Actus des
               Vorstellens, denn sie beruht<lb/>
auf eben jetzt geschehenden Reproductionen. Dabey
               ist zwey-<lb/>
erley zu bemerken:</p><lb/>
            <p>1) Die Succession im Vorstellen ist nicht eine vor-<lb/>
gestellte Succession; und </p><lb/>
            <p>2) sie bedarf keiner endlichen Dauer, sondern nur einer<lb/>
unmerklich kleinen Zeit;
               besonders da beym Umherwandeln<lb/>
des Auges in seinem Gesichtsfelde zahllose
               Ausfassungen des<lb/>
Farbigten in jedem Augenblicke zugleich entstehen, und zu-<lb/>
gleich verstärkend und aufregend auf die zuvor gewonnenen<lb/>
Vorstellungen wirken.
               Das räumliche Sehen schließt eine<lb/>
unendliche Menge von unendlich schwachen,
               gleichzeitigen<lb/>
Reproductionen in sich, die sich mit den momentanen Auf-<lb/>
fassungen vereinigen, welche letztern für sich allein nicht<lb/>
räumlich seyn
               würden. Da nun zu diesem Behufe keine<lb/>
einzelne Reproductionsfolge in einer
               merklichen Länge abzu-<lb/>
laufen braucht, so ist auch keine endliche Zeit dazu
               nöthig;<lb/>
und <hi rendition="#g">deshalb scheint es uns, als ob räumliche An-<lb/>
schauungen ganz simultan, und von allem Zeit-<lb/>
verlaufe frey wären</hi>.</p><lb/>
            <p>175. Um die Wahrnehmungen des Raumlichen von
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0144] regung derer, welche durch Wahrnehmungen mehr aus der Mitte des Gesichtsfeldes verstärkt werden, und eine zahl- lose Menge von einander durchkreuzenden Reproductionen verbunden, für die wir gar keine Worte würden finden kön- nen, wenn sie uns im gebildeten Zustande noch neu wären. Auch der Blindgeborne, der später zum Sehen gelangt, kennt schon den Raum, denn sein Tasten bereitet ihm ähn- liche Reproductions-Folgen, wie das Gesicht sie bequemer und schneller liefert. Man sieht hier, wie zwey so verschie- dene Sinne einerley Resultat ergeben können. 174. Die Vorstellung des Räumlichen erfodert eine Succession in dem Actus des Vorstellens, denn sie beruht auf eben jetzt geschehenden Reproductionen. Dabey ist zwey- erley zu bemerken: 1) Die Succession im Vorstellen ist nicht eine vor- gestellte Succession; und 2) sie bedarf keiner endlichen Dauer, sondern nur einer unmerklich kleinen Zeit; besonders da beym Umherwandeln des Auges in seinem Gesichtsfelde zahllose Ausfassungen des Farbigten in jedem Augenblicke zugleich entstehen, und zu- gleich verstärkend und aufregend auf die zuvor gewonnenen Vorstellungen wirken. Das räumliche Sehen schließt eine unendliche Menge von unendlich schwachen, gleichzeitigen Reproductionen in sich, die sich mit den momentanen Auf- fassungen vereinigen, welche letztern für sich allein nicht räumlich seyn würden. Da nun zu diesem Behufe keine einzelne Reproductionsfolge in einer merklichen Länge abzu- laufen braucht, so ist auch keine endliche Zeit dazu nöthig; und deshalb scheint es uns, als ob räumliche An- schauungen ganz simultan, und von allem Zeit- verlaufe frey wären. 175. Um die Wahrnehmungen des Raumlichen von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/144
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/144>, abgerufen am 17.05.2024.