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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Gleichgewichte nähere, doch ohne es jemals vollkommen zu
erreichen. Alsdann erstirbt für den Gestorbenen die Zeit;
doch geschieht selbst dieses noch auf zeitliche Weise: ein un-
endlich sanftes Schweben der Vorstellungen, eine unendlich
schwache Spur dessen, was wir Leben nennen, ist das ewi-
ge Leben.

250. Ohne Regung, aber im klarsten Wachen, weiß
und fühlt von nun an die Seele das ganze Edle oder Un-
edle ihres vormaligen Wandels auf Erden, den sie als die
unvergängliche Bestimmung ihres Jch, und eben darum als
ein unablösliches Wohl oder Wehe, in sich trägt, unfähig,
auch nur zu begehren, nur zu wünschen, daß ihr Zustand
ein anderer seyn möchte.

Doch hier darf man nicht übersehen, daß in den un-
geordneten Seelen, nach ihren großen inneren Umwälzungen,
unmöglich noch das ganze Unheil bestehen könne, welches
sie in der leiblichen Hülle sich zugezogen hatten. Gerade
das Gegentheil! Die Gegenstände der Begierden und die
kurze Verblendung, welche dadurch unterhalten wurde, sammt
der Verstimmung des leiblichen Zustandes durch heftige
Affecten, alles dieses ist nun längst entflohen; der kindliche
Friede ist zwar nicht ganz, doch zum Theil zurückgekehrt
und hat die verwundeten Gefühle gemildert und den Wahn-
witz der Leidenschaften geheilt. Wie die Täuschung weicht,
tritt die Wahrheit hervor. Lauter und reiner spricht das
Gewissen; endlich spricht es allein, der Sünder ist bekehrt
und die Reue verliert ihren Stachel.

251. Die Vorsehung hat gestattet, daß ein sehr ver-
schiedenes Loos den Menschen auf Erden bereitet werde. Uns
scheint die Verschiedenheit groß und wichtig, einige Jahre
nach dem Tode kann sie sehr vermindert seyn. Die ein-
fachen sinnlichen Wahrnehmungen, dieses erste Material des
geistigen Daseyns, -- sind für Alle die nämlichen; und schon

Gleichgewichte nähere, doch ohne es jemals vollkommen zu
erreichen. Alsdann erstirbt für den Gestorbenen die Zeit;
doch geschieht selbst dieses noch auf zeitliche Weise: ein un-
endlich sanftes Schweben der Vorstellungen, eine unendlich
schwache Spur dessen, was wir Leben nennen, ist das ewi-
ge Leben.

250. Ohne Regung, aber im klarsten Wachen, weiß
und fühlt von nun an die Seele das ganze Edle oder Un-
edle ihres vormaligen Wandels auf Erden, den sie als die
unvergängliche Bestimmung ihres Jch, und eben darum als
ein unablösliches Wohl oder Wehe, in sich trägt, unfähig,
auch nur zu begehren, nur zu wünschen, daß ihr Zustand
ein anderer seyn möchte.

Doch hier darf man nicht übersehen, daß in den un-
geordneten Seelen, nach ihren großen inneren Umwälzungen,
unmöglich noch das ganze Unheil bestehen könne, welches
sie in der leiblichen Hülle sich zugezogen hatten. Gerade
das Gegentheil! Die Gegenstände der Begierden und die
kurze Verblendung, welche dadurch unterhalten wurde, sammt
der Verstimmung des leiblichen Zustandes durch heftige
Affecten, alles dieses ist nun längst entflohen; der kindliche
Friede ist zwar nicht ganz, doch zum Theil zurückgekehrt
und hat die verwundeten Gefühle gemildert und den Wahn-
witz der Leidenschaften geheilt. Wie die Täuschung weicht,
tritt die Wahrheit hervor. Lauter und reiner spricht das
Gewissen; endlich spricht es allein, der Sünder ist bekehrt
und die Reue verliert ihren Stachel.

251. Die Vorsehung hat gestattet, daß ein sehr ver-
schiedenes Loos den Menschen auf Erden bereitet werde. Uns
scheint die Verschiedenheit groß und wichtig, einige Jahre
nach dem Tode kann sie sehr vermindert seyn. Die ein-
fachen sinnlichen Wahrnehmungen, dieses erste Material des
geistigen Daseyns, — sind für Alle die nämlichen; und schon

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[202/0210] Gleichgewichte nähere, doch ohne es jemals vollkommen zu erreichen. Alsdann erstirbt für den Gestorbenen die Zeit; doch geschieht selbst dieses noch auf zeitliche Weise: ein un- endlich sanftes Schweben der Vorstellungen, eine unendlich schwache Spur dessen, was wir Leben nennen, ist das ewi- ge Leben. 250. Ohne Regung, aber im klarsten Wachen, weiß und fühlt von nun an die Seele das ganze Edle oder Un- edle ihres vormaligen Wandels auf Erden, den sie als die unvergängliche Bestimmung ihres Jch, und eben darum als ein unablösliches Wohl oder Wehe, in sich trägt, unfähig, auch nur zu begehren, nur zu wünschen, daß ihr Zustand ein anderer seyn möchte. Doch hier darf man nicht übersehen, daß in den un- geordneten Seelen, nach ihren großen inneren Umwälzungen, unmöglich noch das ganze Unheil bestehen könne, welches sie in der leiblichen Hülle sich zugezogen hatten. Gerade das Gegentheil! Die Gegenstände der Begierden und die kurze Verblendung, welche dadurch unterhalten wurde, sammt der Verstimmung des leiblichen Zustandes durch heftige Affecten, alles dieses ist nun längst entflohen; der kindliche Friede ist zwar nicht ganz, doch zum Theil zurückgekehrt und hat die verwundeten Gefühle gemildert und den Wahn- witz der Leidenschaften geheilt. Wie die Täuschung weicht, tritt die Wahrheit hervor. Lauter und reiner spricht das Gewissen; endlich spricht es allein, der Sünder ist bekehrt und die Reue verliert ihren Stachel. 251. Die Vorsehung hat gestattet, daß ein sehr ver- schiedenes Loos den Menschen auf Erden bereitet werde. Uns scheint die Verschiedenheit groß und wichtig, einige Jahre nach dem Tode kann sie sehr vermindert seyn. Die ein- fachen sinnlichen Wahrnehmungen, dieses erste Material des geistigen Daseyns, — sind für Alle die nämlichen; und schon

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/210>, abgerufen am 21.11.2024.