Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

weil sie,offenbar in dem meisten Fallen die richtige ist. Die Affecten gehören nicht in eine Klasse mit den Leiden-
schaften; dennoch kann man sich eine ganz affectlose Leiden-
schaft gar nicht denken. Wer die Geschichte auch nur einer
einzigen leidenschaftlichen Aufwallung beschreiben will, der
muß sie, mit allen dabey aufgeregten Affecten, als eine ein-
zige Begebenheit betrachten. Der continuirliche Fluß dieser
Begebenheit läßt sich gar nicht durch ein Mosaik-Gemälde
darstellen, dessen einzelne Stückchen man etwa aus den Fä-
chern der empirischen Psychologie zusammensuchen möchte.

c) Daß die abgetheilten Seelenvermögen nicht bloß
neben einander, sondern in Beziehung auf einander vorhan-
den sind, erkennt die empirische Psychologie dadurch an, daß
sie dieselbe durchgängig mit der Bearbeitung eines und
des nämlichen Stoffes beschäfftigt. Diesen Stoff soll die
Sinnlichkeit empfangen, -- wobey die Frage nach dem
Causalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen
eintritt. Wird dasselbe geläugnet, so muß die Sinnlichkeit
vielmehr ein erzeugendes Vermögen genannt werben.
Den nämlichen Stoff soll das Gedächtniß aufbewahren;aber
unbeschadet dieser Aufbewahrung soll ihn auch die Phantasie
in neue Gestalten bringen; und wiederum diesen neuen
Gestalten unbeschadet soll der Verstand Begriffe daraus ma-
chen, auch das Begehrungsvermögen ihn in Begehrtes und
Verabscheutes verwandeln, -- und wiederum sollen die Phan-
tasien, Begriffe, Begehrungen, u. s. w. vom Gedächtnisse
aufbewahrt, und gelegentlich mit frischem Stoffe-versetzt von
neuem den arbeitenden Vermögen unterworfen werden. Oder,
falls dieses unbegreiflich scheint, ist es vielleicht nur ein
Theil des Stoffes, den das Gedächtniß in seinen Vorraths-
kammern vesthält, und wird ein anderer Theil der
Phantasie übergeben, noch ein anderer dem Verstande, wie-
der ein anderer dem Begehrungsvermögen, u. s. w.? Da-

weil sie,offenbar in dem meisten Fallen die richtige ist. Die Affecten gehören nicht in eine Klasse mit den Leiden-
schaften; dennoch kann man sich eine ganz affectlose Leiden-
schaft gar nicht denken. Wer die Geschichte auch nur einer
einzigen leidenschaftlichen Aufwallung beschreiben will, der
muß sie, mit allen dabey aufgeregten Affecten, als eine ein-
zige Begebenheit betrachten. Der continuirliche Fluß dieser
Begebenheit läßt sich gar nicht durch ein Mosaik-Gemälde
darstellen, dessen einzelne Stückchen man etwa aus den Fä-
chern der empirischen Psychologie zusammensuchen möchte.

c) Daß die abgetheilten Seelenvermögen nicht bloß
neben einander, sondern in Beziehung auf einander vorhan-
den sind, erkennt die empirische Psychologie dadurch an, daß
sie dieselbe durchgängig mit der Bearbeitung eines und
des nämlichen Stoffes beschäfftigt. Diesen Stoff soll die
Sinnlichkeit empfangen, — wobey die Frage nach dem
Causalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen
eintritt. Wird dasselbe geläugnet, so muß die Sinnlichkeit
vielmehr ein erzeugendes Vermögen genannt werben.
Den nämlichen Stoff soll das Gedächtniß aufbewahren;aber
unbeschadet dieser Aufbewahrung soll ihn auch die Phantasie
in neue Gestalten bringen; und wiederum diesen neuen
Gestalten unbeschadet soll der Verstand Begriffe daraus ma-
chen, auch das Begehrungsvermögen ihn in Begehrtes und
Verabscheutes verwandeln, — und wiederum sollen die Phan-
tasien, Begriffe, Begehrungen, u. s. w. vom Gedächtnisse
aufbewahrt, und gelegentlich mit frischem Stoffe-versetzt von
neuem den arbeitenden Vermögen unterworfen werden. Oder,
falls dieses unbegreiflich scheint, ist es vielleicht nur ein
Theil des Stoffes, den das Gedächtniß in seinen Vorraths-
kammern vesthält, und wird ein anderer Theil der
Phantasie übergeben, noch ein anderer dem Verstande, wie-
der ein anderer dem Begehrungsvermögen, u. s. w.? Da-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0050" n="42"/>
weil sie,offenbar in dem meisten Fallen die richtige ist. Die Affecten
               gehören nicht in eine Klasse mit den Leiden-<lb/>
schaften; dennoch kann man sich eine
               ganz affectlose Leiden-<lb/>
schaft gar nicht denken. Wer die Geschichte auch nur
               einer<lb/>
einzigen leidenschaftlichen Aufwallung beschreiben will, der<lb/>
muß
               sie, mit allen dabey aufgeregten Affecten, als eine ein-<lb/>
zige Begebenheit
               betrachten. Der continuirliche Fluß dieser<lb/>
Begebenheit läßt sich gar nicht durch
               ein Mosaik-Gemälde<lb/>
darstellen, dessen einzelne Stückchen man etwa aus den
               Fä-<lb/>
chern der empirischen Psychologie zusammensuchen möchte.</p><lb/>
            <p>c) Daß die abgetheilten Seelenvermögen nicht bloß<lb/>
neben einander, sondern in
               Beziehung auf einander vorhan-<lb/>
den sind, erkennt die empirische Psychologie
               dadurch an, daß<lb/>
sie dieselbe durchgängig mit der <hi rendition="#g">Bearbeitung</hi> eines und<lb/>
des nämlichen <hi rendition="#g">Stoffes</hi> beschäfftigt. Diesen Stoff soll die<lb/>
Sinnlichkeit <hi rendition="#g">empfangen</hi>, &#x2014; wobey die Frage nach dem<lb/>
Causalverhältniß zwischen der
               Außenwelt und dem Menschen<lb/>
eintritt. Wird dasselbe geläugnet, so muß die
               Sinnlichkeit<lb/>
vielmehr ein <hi rendition="#g">erzeugendes</hi> Vermögen genannt
               werben.<lb/>
Den nämlichen Stoff soll das Gedächtniß aufbewahren;aber<lb/>
unbeschadet dieser Aufbewahrung soll ihn auch die Phantasie<lb/>
in neue Gestalten
               bringen; und wiederum diesen neuen<lb/>
Gestalten unbeschadet soll der Verstand
               Begriffe daraus ma-<lb/>
chen, auch das Begehrungsvermögen ihn in Begehrtes und<lb/>
Verabscheutes verwandeln, &#x2014; und wiederum sollen die Phan-<lb/>
tasien, Begriffe,
               Begehrungen, u. s. w. vom Gedächtnisse<lb/>
aufbewahrt, und gelegentlich mit frischem
               Stoffe-versetzt von<lb/>
neuem den arbeitenden Vermögen unterworfen werden. Oder,<lb/>
falls dieses unbegreiflich scheint, ist es vielleicht nur ein<lb/><hi rendition="#g">Theil</hi> des Stoffes, den das Gedächtniß in seinen Vorraths-<lb/>
kammern vesthält, und wird <hi rendition="#g">ein anderer Theil</hi> der<lb/>
Phantasie übergeben, noch ein anderer dem Verstande, wie-<lb/>
der ein anderer dem
               Begehrungsvermögen, u. s. w.? Da-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0050] weil sie,offenbar in dem meisten Fallen die richtige ist. Die Affecten gehören nicht in eine Klasse mit den Leiden- schaften; dennoch kann man sich eine ganz affectlose Leiden- schaft gar nicht denken. Wer die Geschichte auch nur einer einzigen leidenschaftlichen Aufwallung beschreiben will, der muß sie, mit allen dabey aufgeregten Affecten, als eine ein- zige Begebenheit betrachten. Der continuirliche Fluß dieser Begebenheit läßt sich gar nicht durch ein Mosaik-Gemälde darstellen, dessen einzelne Stückchen man etwa aus den Fä- chern der empirischen Psychologie zusammensuchen möchte. c) Daß die abgetheilten Seelenvermögen nicht bloß neben einander, sondern in Beziehung auf einander vorhan- den sind, erkennt die empirische Psychologie dadurch an, daß sie dieselbe durchgängig mit der Bearbeitung eines und des nämlichen Stoffes beschäfftigt. Diesen Stoff soll die Sinnlichkeit empfangen, — wobey die Frage nach dem Causalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen eintritt. Wird dasselbe geläugnet, so muß die Sinnlichkeit vielmehr ein erzeugendes Vermögen genannt werben. Den nämlichen Stoff soll das Gedächtniß aufbewahren;aber unbeschadet dieser Aufbewahrung soll ihn auch die Phantasie in neue Gestalten bringen; und wiederum diesen neuen Gestalten unbeschadet soll der Verstand Begriffe daraus ma- chen, auch das Begehrungsvermögen ihn in Begehrtes und Verabscheutes verwandeln, — und wiederum sollen die Phan- tasien, Begriffe, Begehrungen, u. s. w. vom Gedächtnisse aufbewahrt, und gelegentlich mit frischem Stoffe-versetzt von neuem den arbeitenden Vermögen unterworfen werden. Oder, falls dieses unbegreiflich scheint, ist es vielleicht nur ein Theil des Stoffes, den das Gedächtniß in seinen Vorraths- kammern vesthält, und wird ein anderer Theil der Phantasie übergeben, noch ein anderer dem Verstande, wie- der ein anderer dem Begehrungsvermögen, u. s. w.? Da-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/50
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/50>, abgerufen am 21.11.2024.