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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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menfluß von Bildern und Empfindungen ohne Zu-
sammenhang und Bestimmung? Für beide war
gesorgt: es war lebende Sprache. Da gab die
große Einstimmung der Geberden gleichsam den
Takt, und die Sphäre, wohin es gehörte; und der
große Reichthum der Bestimmungen, der im Wör-
terbuch selbst lag, ersezte die Kunst der Grammatik.
Sehet die alte Schrift der Mexicaner! sie mahlen
lauter Einzelne Bilder; Wo kein Bild in die Sinne
fällt, haben sie sich über Striche vereinigt, und den
Zusammenhang zu allem muß die Welt geben, in
die es gehört, aus der es geweissagt wird. Diese
"Weissagungskunst, aus einzelnen Zeichen Zu-
"sammenhang zu errathen"
-- wie weit kön-
nen ihn noch nur Einzelne Stumme und Taube
treiben! und wenn diese Kunst selbst mit zur Spra-
che gehört, von Jugend auf, als Sprache, mit
gelernt wird; wenn sie sich mit der Tradition von
Geschlechtern immer mehr erleichtert und vervoll-
kommnet: so sehe ich nichts unbegreifliches -- -- --
Je mehr sie aber erleichtert wird, desto mehr
nimmt sie ab; desto mehr wird Grammatik --
und das ist Stuffengang des menschlichen Geistes!

Pro-
J 4

menfluß von Bildern und Empfindungen ohne Zu-
ſammenhang und Beſtimmung? Fuͤr beide war
geſorgt: es war lebende Sprache. Da gab die
große Einſtimmung der Geberden gleichſam den
Takt, und die Sphaͤre, wohin es gehoͤrte; und der
große Reichthum der Beſtimmungen, der im Woͤr-
terbuch ſelbſt lag, erſezte die Kunſt der Grammatik.
Sehet die alte Schrift der Mexicaner! ſie mahlen
lauter Einzelne Bilder; Wo kein Bild in die Sinne
faͤllt, haben ſie ſich uͤber Striche vereinigt, und den
Zuſammenhang zu allem muß die Welt geben, in
die es gehoͤrt, aus der es geweiſſagt wird. Dieſe
„Weiſſagungskunſt, aus einzelnen Zeichen Zu-
„ſammenhang zu errathen„
— wie weit koͤn-
nen ihn noch nur Einzelne Stumme und Taube
treiben! und wenn dieſe Kunſt ſelbſt mit zur Spra-
che gehoͤrt, von Jugend auf, als Sprache, mit
gelernt wird; wenn ſie ſich mit der Tradition von
Geſchlechtern immer mehr erleichtert und vervoll-
kommnet: ſo ſehe ich nichts unbegreifliches — — —
Je mehr ſie aber erleichtert wird, deſto mehr
nimmt ſie ab; deſto mehr wird Grammatik
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J 4
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[135/0141] menfluß von Bildern und Empfindungen ohne Zu- ſammenhang und Beſtimmung? Fuͤr beide war geſorgt: es war lebende Sprache. Da gab die große Einſtimmung der Geberden gleichſam den Takt, und die Sphaͤre, wohin es gehoͤrte; und der große Reichthum der Beſtimmungen, der im Woͤr- terbuch ſelbſt lag, erſezte die Kunſt der Grammatik. Sehet die alte Schrift der Mexicaner! ſie mahlen lauter Einzelne Bilder; Wo kein Bild in die Sinne faͤllt, haben ſie ſich uͤber Striche vereinigt, und den Zuſammenhang zu allem muß die Welt geben, in die es gehoͤrt, aus der es geweiſſagt wird. Dieſe „Weiſſagungskunſt, aus einzelnen Zeichen Zu- „ſammenhang zu errathen„ — wie weit koͤn- nen ihn noch nur Einzelne Stumme und Taube treiben! und wenn dieſe Kunſt ſelbſt mit zur Spra- che gehoͤrt, von Jugend auf, als Sprache, mit gelernt wird; wenn ſie ſich mit der Tradition von Geſchlechtern immer mehr erleichtert und vervoll- kommnet: ſo ſehe ich nichts unbegreifliches — — — Je mehr ſie aber erleichtert wird, deſto mehr nimmt ſie ab; deſto mehr wird Grammatik — und das iſt Stuffengang des menſchlichen Geiſtes! Pro- J 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/141>, abgerufen am 15.05.2024.