Der Mensch ist ein freidenkendes, thätiges We- sen, dessen Kräfte in Progression fortwürken; darum sei er ein Geschöpf der Sprache!
Als naktes, instinktloses Thier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen. Da ist kein dunkler, angebohrner Trieb, der ihn in sein Element, und in seinen Würkungskreis, zu seinem Unterhalt und an sein Geschäfte zeucht. Kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf die Kräuter hinreiße, damit er seinen Hun- ger stille! Kein blinder, mechanischer Lehrmei- ster, der für ihn sein Nest baue! Schwach und unterliegend, dem Zwist der Elemente, dem Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller stär- kern Thiere, einem tausendfachen Tode überlassen, stehet er da! einsam und Einzeln! ohne den unmit- telbaren Unterricht seiner Schöpferinn, und ohne die sichere Leitung ihrer Hand, von allen Seiten also verloren -- -- --
Doch
Erſtes Naturgeſetz.
Der Menſch iſt ein freidenkendes, thaͤtiges We- ſen, deſſen Kraͤfte in Progreſſion fortwuͤrken; darum ſei er ein Geſchoͤpf der Sprache!
Als naktes, inſtinktloſes Thier betrachtet, iſt der Menſch das elendeſte der Weſen. Da iſt kein dunkler, angebohrner Trieb, der ihn in ſein Element, und in ſeinen Wuͤrkungskreis, zu ſeinem Unterhalt und an ſein Geſchaͤfte zeucht. Kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf die Kraͤuter hinreiße, damit er ſeinen Hun- ger ſtille! Kein blinder, mechaniſcher Lehrmei- ſter, der fuͤr ihn ſein Neſt baue! Schwach und unterliegend, dem Zwiſt der Elemente, dem Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller ſtaͤr- kern Thiere, einem tauſendfachen Tode uͤberlaſſen, ſtehet er da! einſam und Einzeln! ohne den unmit- telbaren Unterricht ſeiner Schoͤpferinn, und ohne die ſichere Leitung ihrer Hand, von allen Seiten alſo verloren — — —
Doch
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Erſtes Naturgeſetz.
Der Menſch iſt ein freidenkendes, thaͤtiges We-
ſen, deſſen Kraͤfte in Progreſſion fortwuͤrken;
darum ſei er ein Geſchoͤpf der Sprache!
Als naktes, inſtinktloſes Thier betrachtet, iſt
der Menſch das elendeſte der Weſen. Da iſt
kein dunkler, angebohrner Trieb, der ihn in ſein
Element, und in ſeinen Wuͤrkungskreis, zu
ſeinem Unterhalt und an ſein Geſchaͤfte zeucht.
Kein Geruch und keine Witterung, die ihn auf
die Kraͤuter hinreiße, damit er ſeinen Hun-
ger ſtille! Kein blinder, mechaniſcher Lehrmei-
ſter, der fuͤr ihn ſein Neſt baue! Schwach
und unterliegend, dem Zwiſt der Elemente, dem
Hunger, allen Gefahren, den Klauen aller ſtaͤr-
kern Thiere, einem tauſendfachen Tode uͤberlaſſen,
ſtehet er da! einſam und Einzeln! ohne den unmit-
telbaren Unterricht ſeiner Schoͤpferinn, und ohne
die ſichere Leitung ihrer Hand, von allen Seiten
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/150>, abgerufen am 11.02.2025.
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