Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75.

Bild:
<< vorherige Seite

sche Gedanke formte sich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfältigen Natur war, sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter: er ward in ihrem Schooße reif, ohne gewaltsame Gährungen, und mit einer stillen Größe vollendet. Er wand sich seiner Gebährerinn sanft vom Herzen, und bei seiner Geburt beglückten ihn die Grazien und Göttinnen lächelten ihn an.)

Nun steht dieser Körper vor dir: willst du ihn, als ein todtes Kunststück betrachten, blos seine Farbe lieben, blos seinen Puzz anbeten, seine Nägel an den Füßen bewundern, und umarmen eine kalte Bildsäule: willst du im Ausdrucke ohne Gedanken Schönheit finden! - Dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühlloser Betrachter! - Nein! siehe diesen Körper an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos so viel körperliche Reize gab, als erfodert wurden, um ihn deinen irrdischen Augen sichtbar und schön darzustellen. - (Begnüge dich also nicht mit grammatischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der Worte und des todten Rhythmus; denn wenn du da trockne Richtigkeit suchest, wo

sche Gedanke formte sich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfältigen Natur war, sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter: er ward in ihrem Schooße reif, ohne gewaltsame Gährungen, und mit einer stillen Größe vollendet. Er wand sich seiner Gebährerinn sanft vom Herzen, und bei seiner Geburt beglückten ihn die Grazien und Göttinnen lächelten ihn an.)

Nun steht dieser Körper vor dir: willst du ihn, als ein todtes Kunststück betrachten, blos seine Farbe lieben, blos seinen Puzz anbeten, seine Nägel an den Füßen bewundern, und umarmen eine kalte Bildsäule: willst du im Ausdrucke ohne Gedanken Schönheit finden! – Dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühlloser Betrachter! – Nein! siehe diesen Körper an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos so viel körperliche Reize gab, als erfodert wurden, um ihn deinen irrdischen Augen sichtbar und schön darzustellen. – (Begnüge dich also nicht mit grammatischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der Worte und des todten Rhythmus; denn wenn du da trockne Richtigkeit suchest, wo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0024" n="72"/>
sche <hi rendition="#g">Gedanke</hi> formte sich einen <hi rendition="#g">Ausdruck</hi>, der ein Sohn der einfältigen Natur war,   sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter: er ward in ihrem Schooße reif, ohne   gewaltsame Gährungen, und mit einer stillen Größe vollendet. Er wand sich seiner   Gebährerinn sanft vom Herzen, und bei  seiner Geburt beglückten ihn die Grazien und Göttinnen lächelten ihn an.)  </p><lb/>
        <p>  Nun steht dieser Körper vor dir: willst du ihn, als ein todtes Kunststück betrachten,   blos seine Farbe lieben, blos seinen Puzz anbeten, seine Nägel an den Füßen bewundern,   und umarmen eine kalte Bildsäule: willst du im Ausdrucke ohne Gedanken Schönheit finden! &#x2013;   Dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühlloser Betrachter! &#x2013; Nein! siehe diesen Körper   an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos so viel körperliche Reize gab, <hi rendition="#g">als erfodert   wurden, um ihn deinen irrdischen Augen sichtbar und schön darzustellen</hi>. &#x2013;  (Begnüge dich also nicht mit grammatischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der   Worte und des todten <choice><sic>Rhythums</sic><corr>Rhythmus</corr></choice>; denn wenn du da trockne Richtigkeit suchest, wo
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0024] sche Gedanke formte sich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfältigen Natur war, sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter: er ward in ihrem Schooße reif, ohne gewaltsame Gährungen, und mit einer stillen Größe vollendet. Er wand sich seiner Gebährerinn sanft vom Herzen, und bei seiner Geburt beglückten ihn die Grazien und Göttinnen lächelten ihn an.) Nun steht dieser Körper vor dir: willst du ihn, als ein todtes Kunststück betrachten, blos seine Farbe lieben, blos seinen Puzz anbeten, seine Nägel an den Füßen bewundern, und umarmen eine kalte Bildsäule: willst du im Ausdrucke ohne Gedanken Schönheit finden! – Dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühlloser Betrachter! – Nein! siehe diesen Körper an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos so viel körperliche Reize gab, als erfodert wurden, um ihn deinen irrdischen Augen sichtbar und schön darzustellen. – (Begnüge dich also nicht mit grammatischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der Worte und des todten Rhythmus; denn wenn du da trockne Richtigkeit suchest, wo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer): Bereitstellung der Texttranskription. (2018-09-17T13:00:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-09-17T13:00:42Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_gedanke_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_gedanke_1767/24
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kapitel 5; Kapitel 6. In: Über die neuere Deutsche Litteratur. […] Dritte Sammlung. Riga, 1767, S. 50–75, hier S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_gedanke_1767/24>, abgerufen am 03.12.2024.