1. Bei jedem lebendigen Geschöpf scheint der Cirkel organischer Kräfte ganz und vollkommen; nur er ist bei je- dem anders modificirt und vertheilet. Bei diesem liegt er noch der Vegetation nahe und ist daher für die Fortpflan- zung und Wiedererstattung seiner selbst so mächtig; bei an- dern nehmen diese Kräfte ab, je mehr sie in künstlichere Glie- der, feinere Werkzeuge und Sinnen vertheilt werden.
2. Ueber den mächtigen Kräften der Vegetation fan- gen die lebendigen Muskelreize zu wirken an. Sie sind mit jenen Kräften des wachsenden, sproßenden, sich wieder- herstellenden animalischen Fiberngebäudes nahe verwandt; nur sie erscheinen in einer künstlich verschlungenen Form, zu einem eingeschränkteren, bestimmteren Zweck der Lebens- wirkung. Jeder Muskel steht schon mit vielen andern im wechselseitigen Spiel; er wird also auch nicht die Kräfte der Fiber allein, sondern die seinigen erweisen, lebendigen Reiz in wirkender Bewegung. Der Krampffisch erstattet nicht wie die Eidechse, der Frosch, der Polyp, seine Glieder; auch bei denen sich reproducirenden Thieren erstatten sich die Theile, in denen Muskelkräfte zusammengedrungen sind, nicht so, wie die gleichsam absprossenden Glieder; der Krebs kann seine Füße aber nicht seinen Schwanz neu treiben. Jn künstlich verschlungenen Bewegungskräften hört also allmä-
lich
1. Bei jedem lebendigen Geſchoͤpf ſcheint der Cirkel organiſcher Kraͤfte ganz und vollkommen; nur er iſt bei je- dem anders modificirt und vertheilet. Bei dieſem liegt er noch der Vegetation nahe und iſt daher fuͤr die Fortpflan- zung und Wiedererſtattung ſeiner ſelbſt ſo maͤchtig; bei an- dern nehmen dieſe Kraͤfte ab, je mehr ſie in kuͤnſtlichere Glie- der, feinere Werkzeuge und Sinnen vertheilt werden.
2. Ueber den maͤchtigen Kraͤften der Vegetation fan- gen die lebendigen Muskelreize zu wirken an. Sie ſind mit jenen Kraͤften des wachſenden, ſproßenden, ſich wieder- herſtellenden animaliſchen Fiberngebaͤudes nahe verwandt; nur ſie erſcheinen in einer kuͤnſtlich verſchlungenen Form, zu einem eingeſchraͤnkteren, beſtimmteren Zweck der Lebens- wirkung. Jeder Muskel ſteht ſchon mit vielen andern im wechſelſeitigen Spiel; er wird alſo auch nicht die Kraͤfte der Fiber allein, ſondern die ſeinigen erweiſen, lebendigen Reiz in wirkender Bewegung. Der Krampffiſch erſtattet nicht wie die Eidechſe, der Froſch, der Polyp, ſeine Glieder; auch bei denen ſich reproducirenden Thieren erſtatten ſich die Theile, in denen Muskelkraͤfte zuſammengedrungen ſind, nicht ſo, wie die gleichſam abſproſſenden Glieder; der Krebs kann ſeine Fuͤße aber nicht ſeinen Schwanz neu treiben. Jn kuͤnſtlich verſchlungenen Bewegungskraͤften hoͤrt alſo allmaͤ-
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1. Bei jedem lebendigen Geſchoͤpf ſcheint der Cirkel
organiſcher Kraͤfte ganz und vollkommen; nur er iſt bei je-
dem anders modificirt und vertheilet. Bei dieſem liegt er
noch der Vegetation nahe und iſt daher fuͤr die Fortpflan-
zung und Wiedererſtattung ſeiner ſelbſt ſo maͤchtig; bei an-
dern nehmen dieſe Kraͤfte ab, je mehr ſie in kuͤnſtlichere Glie-
der, feinere Werkzeuge und Sinnen vertheilt werden.
2. Ueber den maͤchtigen Kraͤften der Vegetation fan-
gen die lebendigen Muskelreize zu wirken an. Sie ſind
mit jenen Kraͤften des wachſenden, ſproßenden, ſich wieder-
herſtellenden animaliſchen Fiberngebaͤudes nahe verwandt;
nur ſie erſcheinen in einer kuͤnſtlich verſchlungenen Form, zu
einem eingeſchraͤnkteren, beſtimmteren Zweck der Lebens-
wirkung. Jeder Muskel ſteht ſchon mit vielen andern
im wechſelſeitigen Spiel; er wird alſo auch nicht die Kraͤfte
der Fiber allein, ſondern die ſeinigen erweiſen, lebendigen
Reiz in wirkender Bewegung. Der Krampffiſch erſtattet
nicht wie die Eidechſe, der Froſch, der Polyp, ſeine Glieder;
auch bei denen ſich reproducirenden Thieren erſtatten ſich
die Theile, in denen Muskelkraͤfte zuſammengedrungen ſind,
nicht ſo, wie die gleichſam abſproſſenden Glieder; der Krebs
kann ſeine Fuͤße aber nicht ſeinen Schwanz neu treiben. Jn
kuͤnſtlich verſchlungenen Bewegungskraͤften hoͤrt alſo allmaͤ-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/146>, abgerufen am 21.11.2024.
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