Thieren. Auch die Galle des Löwen ist groß und schwärz- lich. Seine breite Zunge läuft vorn rund zu, mit Stacheln besetzt, die anderthalb Zoll lang, mitten auf dem Vordertheil liegen und ihre Spitzen hinterwärts richten. Daher sein ge- fährliches Lecken der Haut, das sogleich Blut hervortreibt und bei dem ihn Blutdurst befällt; wütender Durst auch nach dem Blut seines Wohlthäters und Freundes. Ein Löwe, der einmal Menschenblut gekostet hat, läßt nicht leicht von dieser Beute: weil sein durchfurchter Gaum nach dieser Erquickung lechzet. Dabei gebiert die Löwin mehrere Jun- gen, die langsam wachsen: sie muß sie also lange nähren und ihr mütterlicher Trieb nebst eignem Hunger, reizt ihre Raub- gier. Da die Zunge des Löwen scharf leckt und sein heißer Hunger ein Durst ist: so ists natürlich, daß ihn faules Aas nicht reize. Das eigne Würgen und Aussaugen des frischen Bluts ist sein Königsgeschmack; und sein befremdendes An- staunen oft seine ganze Königsgroßmuth. Leise ist sein Schlaf, weil sein Blut warm und schnell ist; feige wird er, wenn er satt ist, weil er faulen Vorrath nicht brauchen kann, auch nicht an ihn denket und ihn also nur der gegenwärtige Hunger zur Tapferkeit treibet. Wohlthätig hat die Natur seine Sinne gestumpft: sein Gesicht fürchtet das Feuer, da es auch den Glanz der Sonne nicht erträgt: er wittert nicht scharf, weil er auch der Lage seiner Muskeln nach nur zum
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Thieren. Auch die Galle des Loͤwen iſt groß und ſchwaͤrz- lich. Seine breite Zunge laͤuft vorn rund zu, mit Stacheln beſetzt, die anderthalb Zoll lang, mitten auf dem Vordertheil liegen und ihre Spitzen hinterwaͤrts richten. Daher ſein ge- faͤhrliches Lecken der Haut, das ſogleich Blut hervortreibt und bei dem ihn Blutdurſt befaͤllt; wuͤtender Durſt auch nach dem Blut ſeines Wohlthaͤters und Freundes. Ein Loͤwe, der einmal Menſchenblut gekoſtet hat, laͤßt nicht leicht von dieſer Beute: weil ſein durchfurchter Gaum nach dieſer Erquickung lechzet. Dabei gebiert die Loͤwin mehrere Jun- gen, die langſam wachſen: ſie muß ſie alſo lange naͤhren und ihr muͤtterlicher Trieb nebſt eignem Hunger, reizt ihre Raub- gier. Da die Zunge des Loͤwen ſcharf leckt und ſein heißer Hunger ein Durſt iſt: ſo iſts natuͤrlich, daß ihn faules Aas nicht reize. Das eigne Wuͤrgen und Ausſaugen des friſchen Bluts iſt ſein Koͤnigsgeſchmack; und ſein befremdendes An- ſtaunen oft ſeine ganze Koͤnigsgroßmuth. Leiſe iſt ſein Schlaf, weil ſein Blut warm und ſchnell iſt; feige wird er, wenn er ſatt iſt, weil er faulen Vorrath nicht brauchen kann, auch nicht an ihn denket und ihn alſo nur der gegenwaͤrtige Hunger zur Tapferkeit treibet. Wohlthaͤtig hat die Natur ſeine Sinne geſtumpft: ſein Geſicht fuͤrchtet das Feuer, da es auch den Glanz der Sonne nicht ertraͤgt: er wittert nicht ſcharf, weil er auch der Lage ſeiner Muskeln nach nur zum
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Thieren. Auch die Galle des Loͤwen iſt groß und ſchwaͤrz-
lich. Seine breite Zunge laͤuft vorn rund zu, mit Stacheln
beſetzt, die anderthalb Zoll lang, mitten auf dem Vordertheil
liegen und ihre Spitzen hinterwaͤrts richten. Daher ſein ge-
faͤhrliches Lecken der Haut, das ſogleich Blut hervortreibt
und bei dem ihn Blutdurſt befaͤllt; wuͤtender Durſt auch
nach dem Blut ſeines Wohlthaͤters und Freundes. Ein
Loͤwe, der einmal Menſchenblut gekoſtet hat, laͤßt nicht leicht
von dieſer Beute: weil ſein durchfurchter Gaum nach dieſer
Erquickung lechzet. Dabei gebiert die Loͤwin mehrere Jun-
gen, die langſam wachſen: ſie muß ſie alſo lange naͤhren und
ihr muͤtterlicher Trieb nebſt eignem Hunger, reizt ihre Raub-
gier. Da die Zunge des Loͤwen ſcharf leckt und ſein heißer
Hunger ein Durſt iſt: ſo iſts natuͤrlich, daß ihn faules Aas
nicht reize. Das eigne Wuͤrgen und Ausſaugen des friſchen
Bluts iſt ſein Koͤnigsgeſchmack; und ſein befremdendes An-
ſtaunen oft ſeine ganze Koͤnigsgroßmuth. Leiſe iſt ſein
Schlaf, weil ſein Blut warm und ſchnell iſt; feige wird er,
wenn er ſatt iſt, weil er faulen Vorrath nicht brauchen kann,
auch nicht an ihn denket und ihn alſo nur der gegenwaͤrtige
Hunger zur Tapferkeit treibet. Wohlthaͤtig hat die Natur
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/153>, abgerufen am 21.11.2024.
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