Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

sich zu modifiziren, ob er wohl im Ganzen noch einartig wir-
ket. Wurzel, Stamm, Aeste saugen; aber auf verschiedne
Art, durch verschiedne Gänge, verschiedne Wesen. Der
Trieb des Ganzen modifizirt sich also mit ihnen, bleibt aber
noch im Ganzen Eins und dasselbe: denn die Fortpflan-
zung ist nur Efflorescens des Wachsthums
; beide Triebe
sind der Natur des Geschöpfs nach unabtrennbar.

3. Jm Pflanzenthier fängt die Natur an, einzelne
Werkzeuge, mithin auch ihre inwohnenden Kräfte unvermerkt
zu sondern: die Werkzeuge der Nahrung werden sichtbar:
die Frucht löset sich schon im Mutterleibe los, ob sie gleich
noch als Pflanze in ihm genährt wird. Viele Polypen spros-
sen aus Einem Stamm: die Natur hat sie an Ort und Stelle
gesetzt und mit einer eignen Bewegbarkeit noch verschonet;
auch die Schnecke hat noch einen breiten Fuß, mit dem sie
an ihrem Hause haftet. Noch mehr liegen die Sinne dieser
Geschöpfe ungeschieden und dunkel in einander: ihr Trieb
wirkt langsam und innig: die Begattung der Schnecke dauert
viele Tage. So hat die Natur diese Anfänge der lebendi-
gen Organisation, so viel sie konnte, mit dem Vielfachen
verschont, das Vielfache aber dafür in eine dunkle einfache
Regung tiefer gehüllt und vester verbunden. Das zähe Le-
ben der Schnecke ist beinah unzerstörbar.


4. Als

ſich zu modifiziren, ob er wohl im Ganzen noch einartig wir-
ket. Wurzel, Stamm, Aeſte ſaugen; aber auf verſchiedne
Art, durch verſchiedne Gaͤnge, verſchiedne Weſen. Der
Trieb des Ganzen modifizirt ſich alſo mit ihnen, bleibt aber
noch im Ganzen Eins und daſſelbe: denn die Fortpflan-
zung iſt nur Effloreſcens des Wachsthums
; beide Triebe
ſind der Natur des Geſchoͤpfs nach unabtrennbar.

3. Jm Pflanzenthier faͤngt die Natur an, einzelne
Werkzeuge, mithin auch ihre inwohnenden Kraͤfte unvermerkt
zu ſondern: die Werkzeuge der Nahrung werden ſichtbar:
die Frucht loͤſet ſich ſchon im Mutterleibe los, ob ſie gleich
noch als Pflanze in ihm genaͤhrt wird. Viele Polypen ſproſ-
ſen aus Einem Stamm: die Natur hat ſie an Ort und Stelle
geſetzt und mit einer eignen Bewegbarkeit noch verſchonet;
auch die Schnecke hat noch einen breiten Fuß, mit dem ſie
an ihrem Hauſe haftet. Noch mehr liegen die Sinne dieſer
Geſchoͤpfe ungeſchieden und dunkel in einander: ihr Trieb
wirkt langſam und innig: die Begattung der Schnecke dauert
viele Tage. So hat die Natur dieſe Anfaͤnge der lebendi-
gen Organiſation, ſo viel ſie konnte, mit dem Vielfachen
verſchont, das Vielfache aber dafuͤr in eine dunkle einfache
Regung tiefer gehuͤllt und veſter verbunden. Das zaͤhe Le-
ben der Schnecke iſt beinah unzerſtoͤrbar.


4. Als
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0166" n="144"/>
&#x017F;ich zu modifiziren, ob er wohl im Ganzen noch einartig wir-<lb/>
ket. Wurzel, Stamm, Ae&#x017F;te &#x017F;augen; aber auf ver&#x017F;chiedne<lb/>
Art, durch ver&#x017F;chiedne Ga&#x0364;nge, ver&#x017F;chiedne We&#x017F;en. Der<lb/>
Trieb des Ganzen modifizirt &#x017F;ich al&#x017F;o mit ihnen, bleibt aber<lb/>
noch im Ganzen Eins und da&#x017F;&#x017F;elbe: denn die <hi rendition="#fr">Fortpflan-<lb/>
zung i&#x017F;t nur Efflore&#x017F;cens des Wachsthums</hi>; beide Triebe<lb/>
&#x017F;ind der Natur des Ge&#x017F;cho&#x0364;pfs nach unabtrennbar.</p><lb/>
          <p>3. Jm Pflanzenthier fa&#x0364;ngt die Natur an, einzelne<lb/>
Werkzeuge, mithin auch ihre inwohnenden Kra&#x0364;fte unvermerkt<lb/>
zu &#x017F;ondern: die Werkzeuge der Nahrung werden &#x017F;ichtbar:<lb/>
die Frucht lo&#x0364;&#x017F;et &#x017F;ich &#x017F;chon im Mutterleibe los, ob &#x017F;ie gleich<lb/>
noch als Pflanze in ihm gena&#x0364;hrt wird. Viele Polypen &#x017F;pro&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en aus Einem Stamm: die Natur hat &#x017F;ie an Ort und Stelle<lb/>
ge&#x017F;etzt und mit einer eignen Bewegbarkeit noch ver&#x017F;chonet;<lb/>
auch die Schnecke hat noch einen breiten Fuß, mit dem &#x017F;ie<lb/>
an ihrem Hau&#x017F;e haftet. Noch mehr liegen die Sinne die&#x017F;er<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe unge&#x017F;chieden und dunkel in einander: ihr Trieb<lb/>
wirkt lang&#x017F;am und innig: die Begattung der Schnecke dauert<lb/>
viele Tage. So hat die Natur die&#x017F;e Anfa&#x0364;nge der lebendi-<lb/>
gen Organi&#x017F;ation, &#x017F;o viel &#x017F;ie konnte, mit dem Vielfachen<lb/>
ver&#x017F;chont, das Vielfache aber dafu&#x0364;r in eine dunkle einfache<lb/>
Regung tiefer gehu&#x0364;llt und ve&#x017F;ter verbunden. Das za&#x0364;he Le-<lb/>
ben der Schnecke i&#x017F;t beinah unzer&#x017F;to&#x0364;rbar.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">4. Als</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0166] ſich zu modifiziren, ob er wohl im Ganzen noch einartig wir- ket. Wurzel, Stamm, Aeſte ſaugen; aber auf verſchiedne Art, durch verſchiedne Gaͤnge, verſchiedne Weſen. Der Trieb des Ganzen modifizirt ſich alſo mit ihnen, bleibt aber noch im Ganzen Eins und daſſelbe: denn die Fortpflan- zung iſt nur Effloreſcens des Wachsthums; beide Triebe ſind der Natur des Geſchoͤpfs nach unabtrennbar. 3. Jm Pflanzenthier faͤngt die Natur an, einzelne Werkzeuge, mithin auch ihre inwohnenden Kraͤfte unvermerkt zu ſondern: die Werkzeuge der Nahrung werden ſichtbar: die Frucht loͤſet ſich ſchon im Mutterleibe los, ob ſie gleich noch als Pflanze in ihm genaͤhrt wird. Viele Polypen ſproſ- ſen aus Einem Stamm: die Natur hat ſie an Ort und Stelle geſetzt und mit einer eignen Bewegbarkeit noch verſchonet; auch die Schnecke hat noch einen breiten Fuß, mit dem ſie an ihrem Hauſe haftet. Noch mehr liegen die Sinne dieſer Geſchoͤpfe ungeſchieden und dunkel in einander: ihr Trieb wirkt langſam und innig: die Begattung der Schnecke dauert viele Tage. So hat die Natur dieſe Anfaͤnge der lebendi- gen Organiſation, ſo viel ſie konnte, mit dem Vielfachen verſchont, das Vielfache aber dafuͤr in eine dunkle einfache Regung tiefer gehuͤllt und veſter verbunden. Das zaͤhe Le- ben der Schnecke iſt beinah unzerſtoͤrbar. 4. Als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/166
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/166>, abgerufen am 06.05.2024.