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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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IV.
Organischer Unterschied der Thiere und Menschen.



Man hat unserm Geschlecht ein sehr unwahres Lob gemacht,
wenn man behauptete, daß sich jede Kraft und Fähigkeit al-
ler andern Geschlechter dem höchsten Grad nach in ihm finde.
Das Lob ist unerweislich und sich selbst widersprechend: denn
offenbar hübe sodenn eine Kraft die andre auf und das Ge-
schöpf hätte ganz und gar keinen Genuß seines Wesens.
Wie bestehet es zusammen, daß der Mensch wie die Blume
blühen, wie die Spinne tasten, wie die Biene bauen, wie
der Schmetterling saugen könnte; und zugleich die Muskel-
kraft des Löwen, den Rüssel des Elephanten, die Kunst des
Bibers besässe? Und besitzet, ja begreift er nur Eine dieser
Kräfte, mit der Jnnigkeit, mit der sie das Geschöpf genießet
und übet?

Von der andern Seite hat man ihn, ich will nicht sa-
gen zum Thier erniedrigen, sondern ihm einen Charakter sei-
nes Geschlechts gar absprechen und ihn zu einem ausgearte-

ten
IV.
Organiſcher Unterſchied der Thiere und Menſchen.



Man hat unſerm Geſchlecht ein ſehr unwahres Lob gemacht,
wenn man behauptete, daß ſich jede Kraft und Faͤhigkeit al-
ler andern Geſchlechter dem hoͤchſten Grad nach in ihm finde.
Das Lob iſt unerweislich und ſich ſelbſt widerſprechend: denn
offenbar huͤbe ſodenn eine Kraft die andre auf und das Ge-
ſchoͤpf haͤtte ganz und gar keinen Genuß ſeines Weſens.
Wie beſtehet es zuſammen, daß der Menſch wie die Blume
bluͤhen, wie die Spinne taſten, wie die Biene bauen, wie
der Schmetterling ſaugen koͤnnte; und zugleich die Muskel-
kraft des Loͤwen, den Ruͤſſel des Elephanten, die Kunſt des
Bibers beſaͤſſe? Und beſitzet, ja begreift er nur Eine dieſer
Kraͤfte, mit der Jnnigkeit, mit der ſie das Geſchoͤpf genießet
und uͤbet?

Von der andern Seite hat man ihn, ich will nicht ſa-
gen zum Thier erniedrigen, ſondern ihm einen Charakter ſei-
nes Geſchlechts gar abſprechen und ihn zu einem ausgearte-

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[172[152]/0174] IV. Organiſcher Unterſchied der Thiere und Menſchen. Man hat unſerm Geſchlecht ein ſehr unwahres Lob gemacht, wenn man behauptete, daß ſich jede Kraft und Faͤhigkeit al- ler andern Geſchlechter dem hoͤchſten Grad nach in ihm finde. Das Lob iſt unerweislich und ſich ſelbſt widerſprechend: denn offenbar huͤbe ſodenn eine Kraft die andre auf und das Ge- ſchoͤpf haͤtte ganz und gar keinen Genuß ſeines Weſens. Wie beſtehet es zuſammen, daß der Menſch wie die Blume bluͤhen, wie die Spinne taſten, wie die Biene bauen, wie der Schmetterling ſaugen koͤnnte; und zugleich die Muskel- kraft des Loͤwen, den Ruͤſſel des Elephanten, die Kunſt des Bibers beſaͤſſe? Und beſitzet, ja begreift er nur Eine dieſer Kraͤfte, mit der Jnnigkeit, mit der ſie das Geſchoͤpf genießet und uͤbet? Von der andern Seite hat man ihn, ich will nicht ſa- gen zum Thier erniedrigen, ſondern ihm einen Charakter ſei- nes Geſchlechts gar abſprechen und ihn zu einem ausgearte- ten

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 172[152]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/174>, abgerufen am 21.11.2024.