ten Thier machen wollen, das, indem es höhern Vollkom- menheiten nachgestrebt, ganz und gar die Eigenheit seiner Gattung verlohren. Dies ist nun offenbar auch gegen die Wahrheit und Evidenz seiner Naturgeschichte. Augen- scheinlich hat er Eigenschaften, die kein Thier hat und hat Wirkungen hervorgebracht, die im Guten und Bösen ihm eigen bleiben. Kein Thier frißt seines Gleichen aus Lecke- rei: kein Thier mordet sein Geschlecht auf den Befehl eines Dritten mit kaltem Blut. Kein Thier hat Sprache, wie der Mensch sie hat, noch weniger Schrift, Tradition, Reli- gion, willkührliche Gesetze und Rechte. Kein Thier endlich hat auch nur die Bildung, die Kleidung, die Wohnung, die Künste, die unbestimmte Lebensart, die ungebundnen Triebe, die flatterhaften Meinungen, womit sich beinah jedes Jndi- viduum der Menschen auszeichnet. Wir untersuchen noch nicht, ob alle dies zum Vortheil oder Schaden unsrer Gat- tung sei; gnug, es ist der Charakter unsrer Gattung. Da iedes Thier, der Art seines Geschlechts im Ganzen treu bleibt und Wir allein nicht die Nothwendigkeit sondern die Will- kühr zu unsrer Göttin erwählt haben; so muß dieser Unter- schied als Thatsache untersucht werden: denn solche ist er un- läugbar. Die andre Frage: wie der Mensch dazu gekom- men? ob dieser Unterschied ihm ursprünglich sei oder ob er angenommen und affektirt worden? ist von einer andern,
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ten Thier machen wollen, das, indem es hoͤhern Vollkom- menheiten nachgeſtrebt, ganz und gar die Eigenheit ſeiner Gattung verlohren. Dies iſt nun offenbar auch gegen die Wahrheit und Evidenz ſeiner Naturgeſchichte. Augen- ſcheinlich hat er Eigenſchaften, die kein Thier hat und hat Wirkungen hervorgebracht, die im Guten und Boͤſen ihm eigen bleiben. Kein Thier frißt ſeines Gleichen aus Lecke- rei: kein Thier mordet ſein Geſchlecht auf den Befehl eines Dritten mit kaltem Blut. Kein Thier hat Sprache, wie der Menſch ſie hat, noch weniger Schrift, Tradition, Reli- gion, willkuͤhrliche Geſetze und Rechte. Kein Thier endlich hat auch nur die Bildung, die Kleidung, die Wohnung, die Kuͤnſte, die unbeſtimmte Lebensart, die ungebundnen Triebe, die flatterhaften Meinungen, womit ſich beinah jedes Jndi- viduum der Menſchen auszeichnet. Wir unterſuchen noch nicht, ob alle dies zum Vortheil oder Schaden unſrer Gat- tung ſei; gnug, es iſt der Charakter unſrer Gattung. Da iedes Thier, der Art ſeines Geſchlechts im Ganzen treu bleibt und Wir allein nicht die Nothwendigkeit ſondern die Will- kuͤhr zu unſrer Goͤttin erwaͤhlt haben; ſo muß dieſer Unter- ſchied als Thatſache unterſucht werden: denn ſolche iſt er un- laͤugbar. Die andre Frage: wie der Menſch dazu gekom- men? ob dieſer Unterſchied ihm urſpruͤnglich ſei oder ob er angenommen und affektirt worden? iſt von einer andern,
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[173[153]/0175]
ten Thier machen wollen, das, indem es hoͤhern Vollkom-
menheiten nachgeſtrebt, ganz und gar die Eigenheit ſeiner
Gattung verlohren. Dies iſt nun offenbar auch gegen die
Wahrheit und Evidenz ſeiner Naturgeſchichte. Augen-
ſcheinlich hat er Eigenſchaften, die kein Thier hat und hat
Wirkungen hervorgebracht, die im Guten und Boͤſen ihm
eigen bleiben. Kein Thier frißt ſeines Gleichen aus Lecke-
rei: kein Thier mordet ſein Geſchlecht auf den Befehl eines
Dritten mit kaltem Blut. Kein Thier hat Sprache, wie
der Menſch ſie hat, noch weniger Schrift, Tradition, Reli-
gion, willkuͤhrliche Geſetze und Rechte. Kein Thier endlich
hat auch nur die Bildung, die Kleidung, die Wohnung, die
Kuͤnſte, die unbeſtimmte Lebensart, die ungebundnen Triebe,
die flatterhaften Meinungen, womit ſich beinah jedes Jndi-
viduum der Menſchen auszeichnet. Wir unterſuchen noch
nicht, ob alle dies zum Vortheil oder Schaden unſrer Gat-
tung ſei; gnug, es iſt der Charakter unſrer Gattung. Da
iedes Thier, der Art ſeines Geſchlechts im Ganzen treu bleibt
und Wir allein nicht die Nothwendigkeit ſondern die Will-
kuͤhr zu unſrer Goͤttin erwaͤhlt haben; ſo muß dieſer Unter-
ſchied als Thatſache unterſucht werden: denn ſolche iſt er un-
laͤugbar. Die andre Frage: wie der Menſch dazu gekom-
men? ob dieſer Unterſchied ihm urſpruͤnglich ſei oder ob er
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 173[153]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/175>, abgerufen am 21.11.2024.
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