Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

schlechtstriebes entwickelt sich bei einem gesunden, ungereizten
Menschen später, als bei irgend einem Thier: denn er soll
lange leben und den edelsten Saft seiner Seelen- und Leibes-
kräfte nicht zu früh verschwenden. Das Jnsekt, das der
Liebe früh dienet, stirbt auch früh: alle keusche einpaarige
Thiergeschlechter leben länger, als die ohne Ehe leben. Der
lüsterne Hahn stirbt bald: die treue Waldtaube kann 50
Jahre leben. Für den Liebling der Natur hienieden ist also
auch die Ehe geordnet; und die ersten frischesten Jahre sei-
nes Lebens soll er gar als eine eingehüllete Knospe der Un-
schuld sich selbst leben. Es folgen darauf lange Jahre der
männlichen und heitersten Kräfte, in denen seine Vernunft
reift, die bei dem Menschen, sogar mit den Zeugungskräften,
in ein den Thieren unbekanntes hohes Alter hinauf grünet;
bis endlich der sanfte Tod kommt und den fallenden Staub
sowohl als den eingeschlossenen Geist von der ihnen selbst
fremden Zusammenfügung erlöset. Die Natur hat also an
die brechliche Hütte des menschlichen Leibes alle Kunst ver-
wandt, die ein Gebilde der Erde fassen konnte; und selbst in
dem was das Leben kürzt und schwächet, hat sie wenigstens
den kürzern mit dem empfindlichern Genuß, die aufrei-
bende
mit der inniger-gefühlten Kraft vergolten.


VI.

ſchlechtstriebes entwickelt ſich bei einem geſunden, ungereizten
Menſchen ſpaͤter, als bei irgend einem Thier: denn er ſoll
lange leben und den edelſten Saft ſeiner Seelen- und Leibes-
kraͤfte nicht zu fruͤh verſchwenden. Das Jnſekt, das der
Liebe fruͤh dienet, ſtirbt auch fruͤh: alle keuſche einpaarige
Thiergeſchlechter leben laͤnger, als die ohne Ehe leben. Der
luͤſterne Hahn ſtirbt bald: die treue Waldtaube kann 50
Jahre leben. Fuͤr den Liebling der Natur hienieden iſt alſo
auch die Ehe geordnet; und die erſten friſcheſten Jahre ſei-
nes Lebens ſoll er gar als eine eingehuͤllete Knoſpe der Un-
ſchuld ſich ſelbſt leben. Es folgen darauf lange Jahre der
maͤnnlichen und heiterſten Kraͤfte, in denen ſeine Vernunft
reift, die bei dem Menſchen, ſogar mit den Zeugungskraͤften,
in ein den Thieren unbekanntes hohes Alter hinauf gruͤnet;
bis endlich der ſanfte Tod kommt und den fallenden Staub
ſowohl als den eingeſchloſſenen Geiſt von der ihnen ſelbſt
fremden Zuſammenfuͤgung erloͤſet. Die Natur hat alſo an
die brechliche Huͤtte des menſchlichen Leibes alle Kunſt ver-
wandt, die ein Gebilde der Erde faſſen konnte; und ſelbſt in
dem was das Leben kuͤrzt und ſchwaͤchet, hat ſie wenigſtens
den kuͤrzern mit dem empfindlichern Genuß, die aufrei-
bende
mit der inniger-gefuͤhlten Kraft vergolten.


VI.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0245" n="243[223]"/>
&#x017F;chlechtstriebes entwickelt &#x017F;ich bei einem ge&#x017F;unden, ungereizten<lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;pa&#x0364;ter, als bei irgend einem Thier: denn er &#x017F;oll<lb/>
lange leben und den edel&#x017F;ten Saft &#x017F;einer Seelen- und Leibes-<lb/>
kra&#x0364;fte nicht zu fru&#x0364;h ver&#x017F;chwenden. Das Jn&#x017F;ekt, das der<lb/>
Liebe fru&#x0364;h dienet, &#x017F;tirbt auch fru&#x0364;h: alle keu&#x017F;che einpaarige<lb/>
Thierge&#x017F;chlechter leben la&#x0364;nger, als die ohne Ehe leben. Der<lb/>
lu&#x0364;&#x017F;terne Hahn &#x017F;tirbt bald: die treue Waldtaube kann 50<lb/>
Jahre leben. Fu&#x0364;r den Liebling der Natur hienieden i&#x017F;t al&#x017F;o<lb/>
auch die Ehe geordnet; und die er&#x017F;ten fri&#x017F;che&#x017F;ten Jahre &#x017F;ei-<lb/>
nes Lebens &#x017F;oll er gar als eine eingehu&#x0364;llete Kno&#x017F;pe der Un-<lb/>
&#x017F;chuld &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t leben. Es folgen darauf lange Jahre der<lb/>
ma&#x0364;nnlichen und heiter&#x017F;ten Kra&#x0364;fte, in denen &#x017F;eine Vernunft<lb/>
reift, die bei dem Men&#x017F;chen, &#x017F;ogar mit den Zeugungskra&#x0364;ften,<lb/>
in ein den Thieren unbekanntes hohes Alter hinauf gru&#x0364;net;<lb/>
bis endlich der &#x017F;anfte Tod kommt und den fallenden Staub<lb/>
&#x017F;owohl als den einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Gei&#x017F;t von der ihnen &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
fremden Zu&#x017F;ammenfu&#x0364;gung erlo&#x0364;&#x017F;et. Die Natur hat al&#x017F;o an<lb/>
die brechliche Hu&#x0364;tte des men&#x017F;chlichen Leibes alle Kun&#x017F;t ver-<lb/>
wandt, die ein Gebilde der Erde fa&#x017F;&#x017F;en konnte; und &#x017F;elb&#x017F;t in<lb/>
dem was das Leben ku&#x0364;rzt und &#x017F;chwa&#x0364;chet, hat &#x017F;ie wenig&#x017F;tens<lb/>
den <hi rendition="#fr">ku&#x0364;rzern</hi> mit dem <hi rendition="#fr">empfindlichern</hi> Genuß, die <hi rendition="#fr">aufrei-<lb/>
bende</hi> mit der <hi rendition="#fr">inniger-gefu&#x0364;hlten</hi> Kraft vergolten.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">VI.</hi> </fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[243[223]/0245] ſchlechtstriebes entwickelt ſich bei einem geſunden, ungereizten Menſchen ſpaͤter, als bei irgend einem Thier: denn er ſoll lange leben und den edelſten Saft ſeiner Seelen- und Leibes- kraͤfte nicht zu fruͤh verſchwenden. Das Jnſekt, das der Liebe fruͤh dienet, ſtirbt auch fruͤh: alle keuſche einpaarige Thiergeſchlechter leben laͤnger, als die ohne Ehe leben. Der luͤſterne Hahn ſtirbt bald: die treue Waldtaube kann 50 Jahre leben. Fuͤr den Liebling der Natur hienieden iſt alſo auch die Ehe geordnet; und die erſten friſcheſten Jahre ſei- nes Lebens ſoll er gar als eine eingehuͤllete Knoſpe der Un- ſchuld ſich ſelbſt leben. Es folgen darauf lange Jahre der maͤnnlichen und heiterſten Kraͤfte, in denen ſeine Vernunft reift, die bei dem Menſchen, ſogar mit den Zeugungskraͤften, in ein den Thieren unbekanntes hohes Alter hinauf gruͤnet; bis endlich der ſanfte Tod kommt und den fallenden Staub ſowohl als den eingeſchloſſenen Geiſt von der ihnen ſelbſt fremden Zuſammenfuͤgung erloͤſet. Die Natur hat alſo an die brechliche Huͤtte des menſchlichen Leibes alle Kunſt ver- wandt, die ein Gebilde der Erde faſſen konnte; und ſelbſt in dem was das Leben kuͤrzt und ſchwaͤchet, hat ſie wenigſtens den kuͤrzern mit dem empfindlichern Genuß, die aufrei- bende mit der inniger-gefuͤhlten Kraft vergolten. VI.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/245
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 243[223]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/245>, abgerufen am 21.11.2024.