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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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Ja unendlich inniger, stäter und fortgehender muß die-
ser unsichtbare Zusammenhang seyn, als in unserm stumpfen
Sinne die Reihe äußerer Formen zeiget. Denn was ist ei-
ne Organisation, als eine Masse unendlich-vieler zusammen-
gedrängter Kräfte, deren größter Theil eben des Zusammen-
hanges wegen von andern Kräften eingeschränkt, unterdrückt
oder wenigstens unsern Augen so versteckt wird, daß wir die
einzelnen Wassertropfen nur in der dunklen Gestalt der Wol-
ke, d. i. nicht die einzelnen Wesen selbst, sondern nur das Ge-
bilde sehen, das sich zur Nothdurft des Ganzen so und nicht
anders organisiren mußte. Die wahre Stufenleiter der Ge-
schöpfe, welch ein andres Reich muß sie im Auge des All-
wissenden seyn, als von dem die Menschen reden! Wir ord-
nen Formen, die wir nicht durchschauen und claßificiren wie
Kinder nach einzelnen Gliedmaßen oder nach andern Zeichen.
Der oberste Haushalter siehet und hält die Kette aller auf
einander dringenden Kräfte.

Was dies für die Unsterblichkeit der Seele thue? Al-
les; und nicht für die Unsterblichkeit unsrer Seele allein, son-
dern für die Fortdauer aller wirkenden und lebendigen Kräfte
der Weltschöpfung. Keine Kraft kann untergehn; denn
was hieße es: eine Kraft gehe unter? Wir haben in der
Natur davon kein Beispiel, ja in unsrer Seele nicht einmal

einen
J i

Ja unendlich inniger, ſtaͤter und fortgehender muß die-
ſer unſichtbare Zuſammenhang ſeyn, als in unſerm ſtumpfen
Sinne die Reihe aͤußerer Formen zeiget. Denn was iſt ei-
ne Organiſation, als eine Maſſe unendlich-vieler zuſammen-
gedraͤngter Kraͤfte, deren groͤßter Theil eben des Zuſammen-
hanges wegen von andern Kraͤften eingeſchraͤnkt, unterdruͤckt
oder wenigſtens unſern Augen ſo verſteckt wird, daß wir die
einzelnen Waſſertropfen nur in der dunklen Geſtalt der Wol-
ke, d. i. nicht die einzelnen Weſen ſelbſt, ſondern nur das Ge-
bilde ſehen, das ſich zur Nothdurft des Ganzen ſo und nicht
anders organiſiren mußte. Die wahre Stufenleiter der Ge-
ſchoͤpfe, welch ein andres Reich muß ſie im Auge des All-
wiſſenden ſeyn, als von dem die Menſchen reden! Wir ord-
nen Formen, die wir nicht durchſchauen und claßificiren wie
Kinder nach einzelnen Gliedmaßen oder nach andern Zeichen.
Der oberſte Haushalter ſiehet und haͤlt die Kette aller auf
einander dringenden Kraͤfte.

Was dies fuͤr die Unſterblichkeit der Seele thue? Al-
les; und nicht fuͤr die Unſterblichkeit unſrer Seele allein, ſon-
dern fuͤr die Fortdauer aller wirkenden und lebendigen Kraͤfte
der Weltſchoͤpfung. Keine Kraft kann untergehn; denn
was hieße es: eine Kraft gehe unter? Wir haben in der
Natur davon kein Beiſpiel, ja in unſrer Seele nicht einmal

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[269[249]/0271] Ja unendlich inniger, ſtaͤter und fortgehender muß die- ſer unſichtbare Zuſammenhang ſeyn, als in unſerm ſtumpfen Sinne die Reihe aͤußerer Formen zeiget. Denn was iſt ei- ne Organiſation, als eine Maſſe unendlich-vieler zuſammen- gedraͤngter Kraͤfte, deren groͤßter Theil eben des Zuſammen- hanges wegen von andern Kraͤften eingeſchraͤnkt, unterdruͤckt oder wenigſtens unſern Augen ſo verſteckt wird, daß wir die einzelnen Waſſertropfen nur in der dunklen Geſtalt der Wol- ke, d. i. nicht die einzelnen Weſen ſelbſt, ſondern nur das Ge- bilde ſehen, das ſich zur Nothdurft des Ganzen ſo und nicht anders organiſiren mußte. Die wahre Stufenleiter der Ge- ſchoͤpfe, welch ein andres Reich muß ſie im Auge des All- wiſſenden ſeyn, als von dem die Menſchen reden! Wir ord- nen Formen, die wir nicht durchſchauen und claßificiren wie Kinder nach einzelnen Gliedmaßen oder nach andern Zeichen. Der oberſte Haushalter ſiehet und haͤlt die Kette aller auf einander dringenden Kraͤfte. Was dies fuͤr die Unſterblichkeit der Seele thue? Al- les; und nicht fuͤr die Unſterblichkeit unſrer Seele allein, ſon- dern fuͤr die Fortdauer aller wirkenden und lebendigen Kraͤfte der Weltſchoͤpfung. Keine Kraft kann untergehn; denn was hieße es: eine Kraft gehe unter? Wir haben in der Natur davon kein Beiſpiel, ja in unſrer Seele nicht einmal einen J i

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 269[249]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/271>, abgerufen am 09.05.2024.