Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

bei der menschlichen Seele? Sie, die über alle Vermögen
niedrigerer Organisationen so weit hinaufgerückt ist, daß sie
nicht nur mit einer Art Allgegenwart und Allmacht tausend
organische Kräfte meines Körpers als Königin beherrschet:
sondern auch (Wunder aller Wunder!) in sich selbst zu
blicken, und sich zu beherrschen vermag. Nichts geht hienie-
den über die Feinheit, Schnelle und Wirksamkeit eines mensch-
lichen Gedanken; nichts über die Energie, Reinheit und
Wärme eines menschlichen Willens. Mit allem, was der
Mensch denkt, ahmet er der ordnenden, mit allem, was er will
und thut, der schaffenden Gottheit nach; er möge so unver-
nünftig denken als er wolle. Die Aehnlichkeit liegt in der
Sache selbst: sie ist im Wesen seiner Seele gegründet. Die
Kraft, die Gott erkennen, ihn lieben und nachahmen kann,
ja die nach dem Wesen ihrer Vernunft ihn gleichsam wider
Willen erkennen und nachahmen muß, indem sie auch bei Jrr-
thümern und Fehlern nur durch Trug und Schwachheit fehl-
te; sie, die mächtigste Regentin der Erde sollte untergehen,
weil ein äußerer Zustand der Zusammensetzung sich ändert
und einige niedere Unterthanen von ihr weichen? Die Künst-
lerin wäre nicht mehr, weil ihr das Werkzeug aus der Hand
fällt? Wo bliebe hier aller Zusammenhang der Gedan-
ken? --


II.

bei der menſchlichen Seele? Sie, die uͤber alle Vermoͤgen
niedrigerer Organiſationen ſo weit hinaufgeruͤckt iſt, daß ſie
nicht nur mit einer Art Allgegenwart und Allmacht tauſend
organiſche Kraͤfte meines Koͤrpers als Koͤnigin beherrſchet:
ſondern auch (Wunder aller Wunder!) in ſich ſelbſt zu
blicken, und ſich zu beherrſchen vermag. Nichts geht hienie-
den uͤber die Feinheit, Schnelle und Wirkſamkeit eines menſch-
lichen Gedanken; nichts uͤber die Energie, Reinheit und
Waͤrme eines menſchlichen Willens. Mit allem, was der
Menſch denkt, ahmet er der ordnenden, mit allem, was er will
und thut, der ſchaffenden Gottheit nach; er moͤge ſo unver-
nuͤnftig denken als er wolle. Die Aehnlichkeit liegt in der
Sache ſelbſt: ſie iſt im Weſen ſeiner Seele gegruͤndet. Die
Kraft, die Gott erkennen, ihn lieben und nachahmen kann,
ja die nach dem Weſen ihrer Vernunft ihn gleichſam wider
Willen erkennen und nachahmen muß, indem ſie auch bei Jrr-
thuͤmern und Fehlern nur durch Trug und Schwachheit fehl-
te; ſie, die maͤchtigſte Regentin der Erde ſollte untergehen,
weil ein aͤußerer Zuſtand der Zuſammenſetzung ſich aͤndert
und einige niedere Unterthanen von ihr weichen? Die Kuͤnſt-
lerin waͤre nicht mehr, weil ihr das Werkzeug aus der Hand
faͤllt? Wo bliebe hier aller Zuſammenhang der Gedan-
ken? —


II.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0274" n="272[252]"/>
bei der men&#x017F;chlichen Seele? Sie, die u&#x0364;ber alle Vermo&#x0364;gen<lb/>
niedrigerer Organi&#x017F;ationen &#x017F;o weit hinaufgeru&#x0364;ckt i&#x017F;t, daß &#x017F;ie<lb/>
nicht nur mit einer Art Allgegenwart und Allmacht tau&#x017F;end<lb/>
organi&#x017F;che Kra&#x0364;fte meines Ko&#x0364;rpers als Ko&#x0364;nigin beherr&#x017F;chet:<lb/>
&#x017F;ondern auch (Wunder aller Wunder!) in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu<lb/>
blicken, und &#x017F;ich zu beherr&#x017F;chen vermag. Nichts geht hienie-<lb/>
den u&#x0364;ber die Feinheit, Schnelle und Wirk&#x017F;amkeit eines men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Gedanken; nichts u&#x0364;ber die Energie, Reinheit und<lb/>
Wa&#x0364;rme eines men&#x017F;chlichen Willens. Mit allem, was der<lb/>
Men&#x017F;ch denkt, ahmet er der ordnenden, mit allem, was er will<lb/>
und thut, der &#x017F;chaffenden Gottheit nach; er mo&#x0364;ge &#x017F;o unver-<lb/>
nu&#x0364;nftig denken als er wolle. Die Aehnlichkeit liegt in der<lb/>
Sache &#x017F;elb&#x017F;t: &#x017F;ie i&#x017F;t im We&#x017F;en &#x017F;einer Seele gegru&#x0364;ndet. Die<lb/>
Kraft, die Gott erkennen, ihn lieben und nachahmen kann,<lb/>
ja die nach dem We&#x017F;en ihrer Vernunft ihn gleich&#x017F;am wider<lb/>
Willen erkennen und nachahmen muß, indem &#x017F;ie auch bei Jrr-<lb/>
thu&#x0364;mern und Fehlern nur durch Trug und Schwachheit fehl-<lb/>
te; &#x017F;ie, die ma&#x0364;chtig&#x017F;te Regentin der Erde &#x017F;ollte untergehen,<lb/>
weil ein a&#x0364;ußerer Zu&#x017F;tand der Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung &#x017F;ich a&#x0364;ndert<lb/>
und einige niedere Unterthanen von ihr weichen? Die Ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
lerin wa&#x0364;re nicht mehr, weil ihr das Werkzeug aus der Hand<lb/>
fa&#x0364;llt? Wo bliebe hier aller Zu&#x017F;ammenhang der Gedan-<lb/>
ken? &#x2014;</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">II.</hi> </fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272[252]/0274] bei der menſchlichen Seele? Sie, die uͤber alle Vermoͤgen niedrigerer Organiſationen ſo weit hinaufgeruͤckt iſt, daß ſie nicht nur mit einer Art Allgegenwart und Allmacht tauſend organiſche Kraͤfte meines Koͤrpers als Koͤnigin beherrſchet: ſondern auch (Wunder aller Wunder!) in ſich ſelbſt zu blicken, und ſich zu beherrſchen vermag. Nichts geht hienie- den uͤber die Feinheit, Schnelle und Wirkſamkeit eines menſch- lichen Gedanken; nichts uͤber die Energie, Reinheit und Waͤrme eines menſchlichen Willens. Mit allem, was der Menſch denkt, ahmet er der ordnenden, mit allem, was er will und thut, der ſchaffenden Gottheit nach; er moͤge ſo unver- nuͤnftig denken als er wolle. Die Aehnlichkeit liegt in der Sache ſelbſt: ſie iſt im Weſen ſeiner Seele gegruͤndet. Die Kraft, die Gott erkennen, ihn lieben und nachahmen kann, ja die nach dem Weſen ihrer Vernunft ihn gleichſam wider Willen erkennen und nachahmen muß, indem ſie auch bei Jrr- thuͤmern und Fehlern nur durch Trug und Schwachheit fehl- te; ſie, die maͤchtigſte Regentin der Erde ſollte untergehen, weil ein aͤußerer Zuſtand der Zuſammenſetzung ſich aͤndert und einige niedere Unterthanen von ihr weichen? Die Kuͤnſt- lerin waͤre nicht mehr, weil ihr das Werkzeug aus der Hand faͤllt? Wo bliebe hier aller Zuſammenhang der Gedan- ken? — II.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/274
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 272[252]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/274>, abgerufen am 09.05.2024.