II. Keine Kraft der Natur ist ohne Organ; das Or- gan ist aber nie die Kraft selbst, die mit- telst jenem wirket.
Priestlei und andre haben den Spiritualisten vorgerückt, daß man in der ganzen Natur keinen reinen Geist kenne und daß man auch den innern Zustand der Materie lange nicht gnug einsehe, um ihr das Denken oder andere geistige Kräfte abzusprechen; mich dünkt, sie haben in beidem Recht. Ei- nen Geist, der ohne und außer aller Materie wirkt, kennen wir nicht; und in dieser sehen wir so viele geistähnliche Kräf- te, daß mir ein völliger Gegensatz und Widerspruch dieser beiden allerdings sehr verschiednen Wesen des Geistes und der Materie, wo nicht selbst widersprechend, so doch wenig- stens ganz unerwiesen scheinet. Wie können zwei Wesen ge- meinschaftlich und innig harmonisch wirken, die, völlig un- gleichartig, einander wesentlich entgegen wären? und wie kön- nen wir dies behaupten, da uns weder Geist noch Materie im Jnnern bekannt ist?
Wo
J i 3
II. Keine Kraft der Natur iſt ohne Organ; das Or- gan iſt aber nie die Kraft ſelbſt, die mit- telſt jenem wirket.
Prieſtlei und andre haben den Spiritualiſten vorgeruͤckt, daß man in der ganzen Natur keinen reinen Geiſt kenne und daß man auch den innern Zuſtand der Materie lange nicht gnug einſehe, um ihr das Denken oder andere geiſtige Kraͤfte abzuſprechen; mich duͤnkt, ſie haben in beidem Recht. Ei- nen Geiſt, der ohne und außer aller Materie wirkt, kennen wir nicht; und in dieſer ſehen wir ſo viele geiſtaͤhnliche Kraͤf- te, daß mir ein voͤlliger Gegenſatz und Widerſpruch dieſer beiden allerdings ſehr verſchiednen Weſen des Geiſtes und der Materie, wo nicht ſelbſt widerſprechend, ſo doch wenig- ſtens ganz unerwieſen ſcheinet. Wie koͤnnen zwei Weſen ge- meinſchaftlich und innig harmoniſch wirken, die, voͤllig un- gleichartig, einander weſentlich entgegen waͤren? und wie koͤn- nen wir dies behaupten, da uns weder Geiſt noch Materie im Jnnern bekannt iſt?
Wo
J i 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0275"n="273[253]"/><divn="2"><head><hirendition="#aq">II.</hi><lb/>
Keine Kraft der Natur iſt ohne Organ; das Or-<lb/>
gan iſt aber nie die Kraft ſelbſt, die mit-<lb/>
telſt jenem wirket.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">P</hi>rieſtlei und andre haben den Spiritualiſten vorgeruͤckt,<lb/>
daß man in der ganzen Natur keinen reinen Geiſt kenne und<lb/>
daß man auch den innern Zuſtand der Materie lange nicht<lb/>
gnug einſehe, um ihr das Denken oder andere geiſtige Kraͤfte<lb/>
abzuſprechen; mich duͤnkt, ſie haben in beidem Recht. Ei-<lb/>
nen Geiſt, der ohne und außer aller Materie wirkt, kennen<lb/>
wir nicht; und in dieſer ſehen wir ſo viele geiſtaͤhnliche Kraͤf-<lb/>
te, daß mir ein voͤlliger <hirendition="#fr">Gegenſatz</hi> und <hirendition="#fr">Widerſpruch</hi> dieſer<lb/>
beiden allerdings ſehr verſchiednen Weſen des Geiſtes und<lb/>
der Materie, wo nicht ſelbſt widerſprechend, ſo doch wenig-<lb/>ſtens ganz unerwieſen ſcheinet. Wie koͤnnen zwei Weſen ge-<lb/>
meinſchaftlich und innig harmoniſch wirken, die, voͤllig un-<lb/>
gleichartig, einander weſentlich entgegen waͤren? und wie koͤn-<lb/>
nen <hirendition="#fr">wir</hi> dies behaupten, da uns weder Geiſt noch Materie<lb/>
im Jnnern bekannt iſt?</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">J i 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Wo</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[273[253]/0275]
II.
Keine Kraft der Natur iſt ohne Organ; das Or-
gan iſt aber nie die Kraft ſelbſt, die mit-
telſt jenem wirket.
Prieſtlei und andre haben den Spiritualiſten vorgeruͤckt,
daß man in der ganzen Natur keinen reinen Geiſt kenne und
daß man auch den innern Zuſtand der Materie lange nicht
gnug einſehe, um ihr das Denken oder andere geiſtige Kraͤfte
abzuſprechen; mich duͤnkt, ſie haben in beidem Recht. Ei-
nen Geiſt, der ohne und außer aller Materie wirkt, kennen
wir nicht; und in dieſer ſehen wir ſo viele geiſtaͤhnliche Kraͤf-
te, daß mir ein voͤlliger Gegenſatz und Widerſpruch dieſer
beiden allerdings ſehr verſchiednen Weſen des Geiſtes und
der Materie, wo nicht ſelbſt widerſprechend, ſo doch wenig-
ſtens ganz unerwieſen ſcheinet. Wie koͤnnen zwei Weſen ge-
meinſchaftlich und innig harmoniſch wirken, die, voͤllig un-
gleichartig, einander weſentlich entgegen waͤren? und wie koͤn-
nen wir dies behaupten, da uns weder Geiſt noch Materie
im Jnnern bekannt iſt?
Wo
J i 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 273[253]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/275>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.