Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch die
niedrige Natur und sollte er bei der edelsten und mächtigsten
still stehen oder zurückgehen müssen? Was das Thier zu sei-
ner Nahrung bedarf, sind nur Pflanzenartige Kräfte, damit es
Pflanzenartige Theile belebe; der Saft der Muskeln und
Nerven dient nicht mehr zur Nahrung irgend eines Erdwe-
sens. Selbst das Blut ist nur Raubthieren eine Erquickung;
und bei Nationen, die durch Leidenschaft oder Nothdurft da-
zu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Thiers
bemerket, zu dessen lebendiger Speise sie sich grausam ent-
schlossen. Also ist das Reich der Gedanken und Reize, wie
es auch seine Natur fodert, hier ohne sichtbaren Fort- und
Uebergang und die Bildung der Nationen hat es zu einem
ersten Gesetz des menschlichen Gefühls gemacht, jedes Thier
das noch lebet in seinem Blut, zur Speise nicht zu begehren.
Offenbar sind alle diese Kräfte von geistiger Art; daher man
vielleicht mancher Hypothesen über den Nervensaft als über
ein tastbares Vehikulum der Empfindungen hätte überho-
ben seyn mögen. Der Nervensaft, wenn er da ist, erhält
die Nerven und das Gehirn gesund, so daß sie ohne ihn nur
unbrauchbare Stricke und Gefäße wären; sein Nutze ist also
körperlich und die Wirkung der Seele nach ihren Empfindun-
gen und Kräften ist, was für Organe sie auch gebrauchen
möge, überall geistig.


Und
L l

So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch die
niedrige Natur und ſollte er bei der edelſten und maͤchtigſten
ſtill ſtehen oder zuruͤckgehen muͤſſen? Was das Thier zu ſei-
ner Nahrung bedarf, ſind nur Pflanzenartige Kraͤfte, damit es
Pflanzenartige Theile belebe; der Saft der Muskeln und
Nerven dient nicht mehr zur Nahrung irgend eines Erdwe-
ſens. Selbſt das Blut iſt nur Raubthieren eine Erquickung;
und bei Nationen, die durch Leidenſchaft oder Nothdurft da-
zu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Thiers
bemerket, zu deſſen lebendiger Speiſe ſie ſich grauſam ent-
ſchloſſen. Alſo iſt das Reich der Gedanken und Reize, wie
es auch ſeine Natur fodert, hier ohne ſichtbaren Fort- und
Uebergang und die Bildung der Nationen hat es zu einem
erſten Geſetz des menſchlichen Gefuͤhls gemacht, jedes Thier
das noch lebet in ſeinem Blut, zur Speiſe nicht zu begehren.
Offenbar ſind alle dieſe Kraͤfte von geiſtiger Art; daher man
vielleicht mancher Hypotheſen uͤber den Nervenſaft als uͤber
ein taſtbares Vehikulum der Empfindungen haͤtte uͤberho-
ben ſeyn moͤgen. Der Nervenſaft, wenn er da iſt, erhaͤlt
die Nerven und das Gehirn geſund, ſo daß ſie ohne ihn nur
unbrauchbare Stricke und Gefaͤße waͤren; ſein Nutze iſt alſo
koͤrperlich und die Wirkung der Seele nach ihren Empfindun-
gen und Kraͤften iſt, was fuͤr Organe ſie auch gebrauchen
moͤge, uͤberall geiſtig.


Und
L l
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0287" n="285[265]"/>
          <p>So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch die<lb/>
niedrige Natur und &#x017F;ollte er bei der edel&#x017F;ten und ma&#x0364;chtig&#x017F;ten<lb/>
&#x017F;till &#x017F;tehen oder zuru&#x0364;ckgehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en? Was das Thier zu &#x017F;ei-<lb/>
ner Nahrung bedarf, &#x017F;ind nur Pflanzenartige Kra&#x0364;fte, damit es<lb/>
Pflanzenartige Theile belebe; der Saft der Muskeln und<lb/>
Nerven dient nicht mehr zur Nahrung irgend eines Erdwe-<lb/>
&#x017F;ens. Selb&#x017F;t das Blut i&#x017F;t nur Raubthieren eine Erquickung;<lb/>
und bei Nationen, die durch Leiden&#x017F;chaft oder Nothdurft da-<lb/>
zu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Thiers<lb/>
bemerket, zu de&#x017F;&#x017F;en lebendiger Spei&#x017F;e &#x017F;ie &#x017F;ich grau&#x017F;am ent-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Al&#x017F;o i&#x017F;t das Reich der Gedanken und Reize, wie<lb/>
es auch &#x017F;eine Natur fodert, hier ohne &#x017F;ichtbaren Fort- und<lb/>
Uebergang und die Bildung der Nationen hat es zu einem<lb/>
er&#x017F;ten Ge&#x017F;etz des men&#x017F;chlichen Gefu&#x0364;hls gemacht, jedes Thier<lb/>
das noch lebet in &#x017F;einem Blut, zur Spei&#x017F;e nicht zu begehren.<lb/>
Offenbar &#x017F;ind alle die&#x017F;e Kra&#x0364;fte von gei&#x017F;tiger Art; daher man<lb/>
vielleicht mancher Hypothe&#x017F;en u&#x0364;ber den Nerven&#x017F;aft als u&#x0364;ber<lb/>
ein <hi rendition="#fr">ta&#x017F;tbares</hi> Vehikulum der Empfindungen ha&#x0364;tte u&#x0364;berho-<lb/>
ben &#x017F;eyn mo&#x0364;gen. Der Nerven&#x017F;aft, wenn er da i&#x017F;t, erha&#x0364;lt<lb/>
die Nerven und das Gehirn ge&#x017F;und, &#x017F;o daß &#x017F;ie ohne ihn nur<lb/>
unbrauchbare Stricke und Gefa&#x0364;ße wa&#x0364;ren; &#x017F;ein Nutze i&#x017F;t al&#x017F;o<lb/>
ko&#x0364;rperlich und die Wirkung der Seele nach ihren Empfindun-<lb/>
gen und Kra&#x0364;ften i&#x017F;t, was fu&#x0364;r Organe &#x017F;ie auch gebrauchen<lb/>
mo&#x0364;ge, u&#x0364;berall <hi rendition="#fr">gei&#x017F;tig</hi>.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">L l</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Und</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285[265]/0287] So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch die niedrige Natur und ſollte er bei der edelſten und maͤchtigſten ſtill ſtehen oder zuruͤckgehen muͤſſen? Was das Thier zu ſei- ner Nahrung bedarf, ſind nur Pflanzenartige Kraͤfte, damit es Pflanzenartige Theile belebe; der Saft der Muskeln und Nerven dient nicht mehr zur Nahrung irgend eines Erdwe- ſens. Selbſt das Blut iſt nur Raubthieren eine Erquickung; und bei Nationen, die durch Leidenſchaft oder Nothdurft da- zu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Thiers bemerket, zu deſſen lebendiger Speiſe ſie ſich grauſam ent- ſchloſſen. Alſo iſt das Reich der Gedanken und Reize, wie es auch ſeine Natur fodert, hier ohne ſichtbaren Fort- und Uebergang und die Bildung der Nationen hat es zu einem erſten Geſetz des menſchlichen Gefuͤhls gemacht, jedes Thier das noch lebet in ſeinem Blut, zur Speiſe nicht zu begehren. Offenbar ſind alle dieſe Kraͤfte von geiſtiger Art; daher man vielleicht mancher Hypotheſen uͤber den Nervenſaft als uͤber ein taſtbares Vehikulum der Empfindungen haͤtte uͤberho- ben ſeyn moͤgen. Der Nervenſaft, wenn er da iſt, erhaͤlt die Nerven und das Gehirn geſund, ſo daß ſie ohne ihn nur unbrauchbare Stricke und Gefaͤße waͤren; ſein Nutze iſt alſo koͤrperlich und die Wirkung der Seele nach ihren Empfindun- gen und Kraͤften iſt, was fuͤr Organe ſie auch gebrauchen moͤge, uͤberall geiſtig. Und L l

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/287
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 285[265]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/287>, abgerufen am 28.11.2024.