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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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ling ein bekanntes Sinnbild geworden. Siehe da kriecht
die häßliche einem groben Nahrungstriebe dienende Raupe,
ihre Stunde kommt und Mattigkeit des Todes befällt sie: sie
stemmet sich an: sie windet sich ein: sie hat das Gespinst zu
ihrem Todtengewande, so wie zum Theil die Organe ihres
neuen Daseyns schon in sich. Nun arbeiten die Ringe:
nun streben die inwendigen organischen Kräfte. Langsam
geht die Verwandlung zuerst und scheint Zerstörung: zehn
Füße bleiben an der abgestreiften Haut und das neue Ge-
schöpf ist noch unförmlich in seinen Gliedern. Allmälich bil-
den sich diese und treten in Ordnung: das Geschöpf aber er-
wacht nicht eher, bis es ganz da ist: nun dränget es sich ans
Licht, und schnell geschiehet die letzte Ausbildung. Wenige
Minuten; und die zarten Flügel werden fünfmal größer als
sie noch eben unter der Todeshülle waren: sie sind mit ela-
stischer Kraft und mit allem Glanz der Stralen begabt, der
unter dieser Sonne nur statt fand; zahlreich und groß, um
das Geschöpf wie auf Schwingen des Zephyrs zu tragen.
Sein ganzer Bau ist verändert: statt der groben Blätter,
zu denen es vorhin gebildet war, genießt es jetzt Nektarthau
vom goldnen Kelch der Blumen. Seine Bestimmung ist
verändert: statt des groben Nahrungstriebes dient es einem
feinern, der Liebe. Wer würde in der Raupengestalt den
künftigen Schmetterling ahnen? wer würde in beiden Ein

und

ling ein bekanntes Sinnbild geworden. Siehe da kriecht
die haͤßliche einem groben Nahrungstriebe dienende Raupe,
ihre Stunde kommt und Mattigkeit des Todes befaͤllt ſie: ſie
ſtemmet ſich an: ſie windet ſich ein: ſie hat das Geſpinſt zu
ihrem Todtengewande, ſo wie zum Theil die Organe ihres
neuen Daſeyns ſchon in ſich. Nun arbeiten die Ringe:
nun ſtreben die inwendigen organiſchen Kraͤfte. Langſam
geht die Verwandlung zuerſt und ſcheint Zerſtoͤrung: zehn
Fuͤße bleiben an der abgeſtreiften Haut und das neue Ge-
ſchoͤpf iſt noch unfoͤrmlich in ſeinen Gliedern. Allmaͤlich bil-
den ſich dieſe und treten in Ordnung: das Geſchoͤpf aber er-
wacht nicht eher, bis es ganz da iſt: nun draͤnget es ſich ans
Licht, und ſchnell geſchiehet die letzte Ausbildung. Wenige
Minuten; und die zarten Fluͤgel werden fuͤnfmal groͤßer als
ſie noch eben unter der Todeshuͤlle waren: ſie ſind mit ela-
ſtiſcher Kraft und mit allem Glanz der Stralen begabt, der
unter dieſer Sonne nur ſtatt fand; zahlreich und groß, um
das Geſchoͤpf wie auf Schwingen des Zephyrs zu tragen.
Sein ganzer Bau iſt veraͤndert: ſtatt der groben Blaͤtter,
zu denen es vorhin gebildet war, genießt es jetzt Nektarthau
vom goldnen Kelch der Blumen. Seine Beſtimmung iſt
veraͤndert: ſtatt des groben Nahrungstriebes dient es einem
feinern, der Liebe. Wer wuͤrde in der Raupengeſtalt den
kuͤnftigen Schmetterling ahnen? wer wuͤrde in beiden Ein

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[306[286]/0308] ling ein bekanntes Sinnbild geworden. Siehe da kriecht die haͤßliche einem groben Nahrungstriebe dienende Raupe, ihre Stunde kommt und Mattigkeit des Todes befaͤllt ſie: ſie ſtemmet ſich an: ſie windet ſich ein: ſie hat das Geſpinſt zu ihrem Todtengewande, ſo wie zum Theil die Organe ihres neuen Daſeyns ſchon in ſich. Nun arbeiten die Ringe: nun ſtreben die inwendigen organiſchen Kraͤfte. Langſam geht die Verwandlung zuerſt und ſcheint Zerſtoͤrung: zehn Fuͤße bleiben an der abgeſtreiften Haut und das neue Ge- ſchoͤpf iſt noch unfoͤrmlich in ſeinen Gliedern. Allmaͤlich bil- den ſich dieſe und treten in Ordnung: das Geſchoͤpf aber er- wacht nicht eher, bis es ganz da iſt: nun draͤnget es ſich ans Licht, und ſchnell geſchiehet die letzte Ausbildung. Wenige Minuten; und die zarten Fluͤgel werden fuͤnfmal groͤßer als ſie noch eben unter der Todeshuͤlle waren: ſie ſind mit ela- ſtiſcher Kraft und mit allem Glanz der Stralen begabt, der unter dieſer Sonne nur ſtatt fand; zahlreich und groß, um das Geſchoͤpf wie auf Schwingen des Zephyrs zu tragen. Sein ganzer Bau iſt veraͤndert: ſtatt der groben Blaͤtter, zu denen es vorhin gebildet war, genießt es jetzt Nektarthau vom goldnen Kelch der Blumen. Seine Beſtimmung iſt veraͤndert: ſtatt des groben Nahrungstriebes dient es einem feinern, der Liebe. Wer wuͤrde in der Raupengeſtalt den kuͤnftigen Schmetterling ahnen? wer wuͤrde in beiden Ein und

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 306[286]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/308>, abgerufen am 30.11.2024.