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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Kritische Wälder.
Hr. L. thut mir mit diesem Grunde, wenigstens so
wie er ihn ausdrückt, so wenig ein Gnügen, als Sa-
nadon oder Klotz: denn wäre ein Begriff, den man
ursprünglich durch das Auge erhält, deßwegen nicht
für das Gehör, weil sich mit dem Ohre nicht sehen
läßt; so verlöre die Poesie ihren ganzen Antheil an
sinnlichen Gegenständen des Auges: und was bleibt
ihr da übrig? Nicht also, weil die Attribute: Nä-
gel, Klammern, Bley, sich sehen und nicht hören
lassen, nicht deßwegen machen sie die Stelle frostig:
denn wer wird nicht gleich, wenn er vncus, plum-
bum, clavos
höret, nicht sogleich mit seiner Einbil-
dungskraft vncum, plumbum, clavos sehen? wenn
wird Anstrengung nöthig seyn, sich diese Dinge,
wenn er sie durch das Gehör empfängt, so klar zu
denken, als wenn er sie sähe? Wegen der Attribute
selbst also kann wohl die Stelle Horaz nicht frostig
werden; aber wohl wegen der Composition die-
ser Attribute zu einem Bilde. Die
Necessitas
geht vor der Fortuna voraus -- wohl! und
wir erwarten, wozu sie gehen, was sie ausrichten
wolle? Sie trägt Keule und Nagel -- wohl! wozu
trägt sie sie? -- Es fehlt ihr auch nicht Klam-
mer und fließend Bley
-- hier wird der poetische
Leser ungeduldig -- was brauche ich alles das zu
wissen, was ihr fehlt, oder nicht fehlt? was sie
hat oder nicht hat? ich höre ja nicht, was sie damit
will, oder soll? ich stehe vor einem todten Gemälde.

Was

Kritiſche Waͤlder.
Hr. L. thut mir mit dieſem Grunde, wenigſtens ſo
wie er ihn ausdruͤckt, ſo wenig ein Gnuͤgen, als Sa-
nadon oder Klotz: denn waͤre ein Begriff, den man
urſpruͤnglich durch das Auge erhaͤlt, deßwegen nicht
fuͤr das Gehoͤr, weil ſich mit dem Ohre nicht ſehen
laͤßt; ſo verloͤre die Poeſie ihren ganzen Antheil an
ſinnlichen Gegenſtaͤnden des Auges: und was bleibt
ihr da uͤbrig? Nicht alſo, weil die Attribute: Naͤ-
gel, Klammern, Bley, ſich ſehen und nicht hoͤren
laſſen, nicht deßwegen machen ſie die Stelle froſtig:
denn wer wird nicht gleich, wenn er vncus, plum-
bum, clavos
hoͤret, nicht ſogleich mit ſeiner Einbil-
dungskraft vncum, plumbum, clavos ſehen? wenn
wird Anſtrengung noͤthig ſeyn, ſich dieſe Dinge,
wenn er ſie durch das Gehoͤr empfaͤngt, ſo klar zu
denken, als wenn er ſie ſaͤhe? Wegen der Attribute
ſelbſt alſo kann wohl die Stelle Horaz nicht froſtig
werden; aber wohl wegen der Compoſition die-
ſer Attribute zu einem Bilde. Die
Neceſſitas
geht vor der Fortuna voraus — wohl! und
wir erwarten, wozu ſie gehen, was ſie ausrichten
wolle? Sie traͤgt Keule und Nagel — wohl! wozu
traͤgt ſie ſie? — Es fehlt ihr auch nicht Klam-
mer und fließend Bley
— hier wird der poetiſche
Leſer ungeduldig — was brauche ich alles das zu
wiſſen, was ihr fehlt, oder nicht fehlt? was ſie
hat oder nicht hat? ich hoͤre ja nicht, was ſie damit
will, oder ſoll? ich ſtehe vor einem todten Gemaͤlde.

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[144/0150] Kritiſche Waͤlder. Hr. L. thut mir mit dieſem Grunde, wenigſtens ſo wie er ihn ausdruͤckt, ſo wenig ein Gnuͤgen, als Sa- nadon oder Klotz: denn waͤre ein Begriff, den man urſpruͤnglich durch das Auge erhaͤlt, deßwegen nicht fuͤr das Gehoͤr, weil ſich mit dem Ohre nicht ſehen laͤßt; ſo verloͤre die Poeſie ihren ganzen Antheil an ſinnlichen Gegenſtaͤnden des Auges: und was bleibt ihr da uͤbrig? Nicht alſo, weil die Attribute: Naͤ- gel, Klammern, Bley, ſich ſehen und nicht hoͤren laſſen, nicht deßwegen machen ſie die Stelle froſtig: denn wer wird nicht gleich, wenn er vncus, plum- bum, clavos hoͤret, nicht ſogleich mit ſeiner Einbil- dungskraft vncum, plumbum, clavos ſehen? wenn wird Anſtrengung noͤthig ſeyn, ſich dieſe Dinge, wenn er ſie durch das Gehoͤr empfaͤngt, ſo klar zu denken, als wenn er ſie ſaͤhe? Wegen der Attribute ſelbſt alſo kann wohl die Stelle Horaz nicht froſtig werden; aber wohl wegen der Compoſition die- ſer Attribute zu einem Bilde. Die Neceſſitas geht vor der Fortuna voraus — wohl! und wir erwarten, wozu ſie gehen, was ſie ausrichten wolle? Sie traͤgt Keule und Nagel — wohl! wozu traͤgt ſie ſie? — Es fehlt ihr auch nicht Klam- mer und fließend Bley — hier wird der poetiſche Leſer ungeduldig — was brauche ich alles das zu wiſſen, was ihr fehlt, oder nicht fehlt? was ſie hat oder nicht hat? ich hoͤre ja nicht, was ſie damit will, oder ſoll? ich ſtehe vor einem todten Gemaͤlde. Was

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/150>, abgerufen am 21.11.2024.