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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder

Wie gutherzi[g] ist nun die Bewunderung un-
sres Schriftstellers, der hinter allen Proben, die
Quintilian von dem verderbten Witze seiner Zeit,
Lüderlichkeiten zu finden, selbst nicht ohne Wider-
willen giebt, ausruft: "Tantum in Romanis
"verecundiae studium! tam diligentes castis auribus
"pepercerunt!" - Scilicet!
Als wenn deßwegen die
französische Nation und Sprache die züchtigste Ma-
trone wäre, weil sie einen Ueberfluß solcher Anstän-
digkeiten hat, daß, wenn nicht jeder Ausdruck sehr
sorgfältig, und nach der neuesten Modebedeutung
gewählt würde, der ehrbarste, ernsthafteste Mensch
jeden Augenblick in die Verlegenheit kommt, eine
Gesellschaft Zweideutigkeitenkrämer lachen zu ma-
chen! Als wenn sich diese Sprache an Zucht und
Ehrbarkeit so hoch heraufgeschwungen, als jetzt ein
junger Witzling nach der Mode keinen ihrer alten
Schriftsteller mehr, ohne Lächeln und Verlachen,
ohne hundert anstößige und niedrige Ausdrücke zu
finden, lesen kann! O die züchtige Nation! die
züchtige Sprache! Tantum fuit in Gallis vere-
cundiae studium! tam diligenter castis auribus
pepercerunt!
wird einst ein künftiger Klotz des
neunzehnten Jahrhunderts sagen können.

Jch will den Unterschied ins Licht setzen. Zur
Zeit einer einfältigen Unschuld hat jede Sache, die
genannt werden soll, einen Namen, und das ist ihr
Name. Darf die Sache nicht genannt werden:

gut!
Kritiſche Waͤlder

Wie gutherzi[g] iſt nun die Bewunderung un-
ſres Schriftſtellers, der hinter allen Proben, die
Quintilian von dem verderbten Witze ſeiner Zeit,
Luͤderlichkeiten zu finden, ſelbſt nicht ohne Wider-
willen giebt, ausruft: „Tantum in Romanis
„verecundiae ſtudium! tam diligentes caſtis auribus
„pepercerunt!„ – Scilicet!
Als wenn deßwegen die
franzoͤſiſche Nation und Sprache die zuͤchtigſte Ma-
trone waͤre, weil ſie einen Ueberfluß ſolcher Anſtaͤn-
digkeiten hat, daß, wenn nicht jeder Ausdruck ſehr
ſorgfaͤltig, und nach der neueſten Modebedeutung
gewaͤhlt wuͤrde, der ehrbarſte, ernſthafteſte Menſch
jeden Augenblick in die Verlegenheit kommt, eine
Geſellſchaft Zweideutigkeitenkraͤmer lachen zu ma-
chen! Als wenn ſich dieſe Sprache an Zucht und
Ehrbarkeit ſo hoch heraufgeſchwungen, als jetzt ein
junger Witzling nach der Mode keinen ihrer alten
Schriftſteller mehr, ohne Laͤcheln und Verlachen,
ohne hundert anſtoͤßige und niedrige Ausdruͤcke zu
finden, leſen kann! O die zuͤchtige Nation! die
zuͤchtige Sprache! Tantum fuit in Gallis vere-
cundiae ſtudium! tam diligenter caſtis auribus
pepercerunt!
wird einſt ein kuͤnftiger Klotz des
neunzehnten Jahrhunderts ſagen koͤnnen.

Jch will den Unterſchied ins Licht ſetzen. Zur
Zeit einer einfaͤltigen Unſchuld hat jede Sache, die
genannt werden ſoll, einen Namen, und das iſt ihr
Name. Darf die Sache nicht genannt werden:

gut!
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[140/0146] Kritiſche Waͤlder Wie gutherzig iſt nun die Bewunderung un- ſres Schriftſtellers, der hinter allen Proben, die Quintilian von dem verderbten Witze ſeiner Zeit, Luͤderlichkeiten zu finden, ſelbſt nicht ohne Wider- willen giebt, ausruft: „Tantum in Romanis „verecundiae ſtudium! tam diligentes caſtis auribus „pepercerunt!„ – Scilicet! Als wenn deßwegen die franzoͤſiſche Nation und Sprache die zuͤchtigſte Ma- trone waͤre, weil ſie einen Ueberfluß ſolcher Anſtaͤn- digkeiten hat, daß, wenn nicht jeder Ausdruck ſehr ſorgfaͤltig, und nach der neueſten Modebedeutung gewaͤhlt wuͤrde, der ehrbarſte, ernſthafteſte Menſch jeden Augenblick in die Verlegenheit kommt, eine Geſellſchaft Zweideutigkeitenkraͤmer lachen zu ma- chen! Als wenn ſich dieſe Sprache an Zucht und Ehrbarkeit ſo hoch heraufgeſchwungen, als jetzt ein junger Witzling nach der Mode keinen ihrer alten Schriftſteller mehr, ohne Laͤcheln und Verlachen, ohne hundert anſtoͤßige und niedrige Ausdruͤcke zu finden, leſen kann! O die zuͤchtige Nation! die zuͤchtige Sprache! Tantum fuit in Gallis vere- cundiae ſtudium! tam diligenter caſtis auribus pepercerunt! wird einſt ein kuͤnftiger Klotz des neunzehnten Jahrhunderts ſagen koͤnnen. Jch will den Unterſchied ins Licht ſetzen. Zur Zeit einer einfaͤltigen Unſchuld hat jede Sache, die genannt werden ſoll, einen Namen, und das iſt ihr Name. Darf die Sache nicht genannt werden: gut!

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/146>, abgerufen am 24.11.2024.