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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder.
späterere Zeit "Unanständigkeiten" nennen kann-
Sie nenne sie so; nur sie nenne sie nicht so in äl-
tern unverholnern Zeiten, wo man von der Regeln-
schaam des Dekorum noch nicht so viel wußte.
Jch bleibe bei einem mißbrauchten Beispiele meines
Autors. Er vergleicht Homer und Virgil in An-
sehung des Anständigen; und wie anders, wenn er
aus seinem Kopf urtheilen wollte, als daß er für
diesen sprechen mußte a).

Jhm gefällt in Homer der Liebesantrag nicht,
den Paris an seine Helena thut; und mir, wenn
ich eine Jliade schreiben sollte, mißsällt die Stelle
so wenig, daß ich dem Griechen die unschuldige Ein-
falt seiner Zeit beneide. Als ein feiger Flüchtling
ist Paris dem Zweikampf entronnen: unrühmlich
ward er unsichtbar: seine Beschützerinn Venus
mußte ihn den Händen seines streitbaren Gegners,
Menelaus, entnehmen. Nicht gnug! sie muß ihm
für seine Stunde der feigen Angst im Zweigefechte
so gleich auch eine Stunde der Erholung in den Ar-
men der Helena schenken: Helena muß sich zu einer so
ungelegnen Zeit zu einer Schäferstunde mit dem be-
quemen, der sie ihrem rechtmäßigen Gemahl ent-
wandt, und jetzt der Tapferkeit desselben nicht hatte
Stand halten können, den sie in Absicht auf männliche
Streitbarkeit verachten mußte. Ein solcher macht
ihr jetzt den Liebesantrag -- wie charakteristisch! wie

malend!
a) p. 264.

Kritiſche Waͤlder.
ſpaͤterere Zeit „Unanſtaͤndigkeiten„ nennen kann-
Sie nenne ſie ſo; nur ſie nenne ſie nicht ſo in aͤl-
tern unverholnern Zeiten, wo man von der Regeln-
ſchaam des Dekorum noch nicht ſo viel wußte.
Jch bleibe bei einem mißbrauchten Beiſpiele meines
Autors. Er vergleicht Homer und Virgil in An-
ſehung des Anſtaͤndigen; und wie anders, wenn er
aus ſeinem Kopf urtheilen wollte, als daß er fuͤr
dieſen ſprechen mußte a).

Jhm gefaͤllt in Homer der Liebesantrag nicht,
den Paris an ſeine Helena thut; und mir, wenn
ich eine Jliade ſchreiben ſollte, mißſaͤllt die Stelle
ſo wenig, daß ich dem Griechen die unſchuldige Ein-
falt ſeiner Zeit beneide. Als ein feiger Fluͤchtling
iſt Paris dem Zweikampf entronnen: unruͤhmlich
ward er unſichtbar: ſeine Beſchuͤtzerinn Venus
mußte ihn den Haͤnden ſeines ſtreitbaren Gegners,
Menelaus, entnehmen. Nicht gnug! ſie muß ihm
fuͤr ſeine Stunde der feigen Angſt im Zweigefechte
ſo gleich auch eine Stunde der Erholung in den Ar-
men der Helena ſchenken: Helena muß ſich zu einer ſo
ungelegnen Zeit zu einer Schaͤferſtunde mit dem be-
quemen, der ſie ihrem rechtmaͤßigen Gemahl ent-
wandt, und jetzt der Tapferkeit deſſelben nicht hatte
Stand halten koͤnnen, den ſie in Abſicht auf maͤnnliche
Streitbarkeit verachten mußte. Ein ſolcher macht
ihr jetzt den Liebesantrag — wie charakteriſtiſch! wie

malend!
a) p. 264.
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[142/0148] Kritiſche Waͤlder. ſpaͤterere Zeit „Unanſtaͤndigkeiten„ nennen kann- Sie nenne ſie ſo; nur ſie nenne ſie nicht ſo in aͤl- tern unverholnern Zeiten, wo man von der Regeln- ſchaam des Dekorum noch nicht ſo viel wußte. Jch bleibe bei einem mißbrauchten Beiſpiele meines Autors. Er vergleicht Homer und Virgil in An- ſehung des Anſtaͤndigen; und wie anders, wenn er aus ſeinem Kopf urtheilen wollte, als daß er fuͤr dieſen ſprechen mußte a). Jhm gefaͤllt in Homer der Liebesantrag nicht, den Paris an ſeine Helena thut; und mir, wenn ich eine Jliade ſchreiben ſollte, mißſaͤllt die Stelle ſo wenig, daß ich dem Griechen die unſchuldige Ein- falt ſeiner Zeit beneide. Als ein feiger Fluͤchtling iſt Paris dem Zweikampf entronnen: unruͤhmlich ward er unſichtbar: ſeine Beſchuͤtzerinn Venus mußte ihn den Haͤnden ſeines ſtreitbaren Gegners, Menelaus, entnehmen. Nicht gnug! ſie muß ihm fuͤr ſeine Stunde der feigen Angſt im Zweigefechte ſo gleich auch eine Stunde der Erholung in den Ar- men der Helena ſchenken: Helena muß ſich zu einer ſo ungelegnen Zeit zu einer Schaͤferſtunde mit dem be- quemen, der ſie ihrem rechtmaͤßigen Gemahl ent- wandt, und jetzt der Tapferkeit deſſelben nicht hatte Stand halten koͤnnen, den ſie in Abſicht auf maͤnnliche Streitbarkeit verachten mußte. Ein ſolcher macht ihr jetzt den Liebesantrag — wie charakteriſtiſch! wie malend! a) p. 264.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/148>, abgerufen am 21.11.2024.