Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
malend! a) -- Der wohllüstige Ehebrecher steht
uns vor Augen, der Menelaus sein schönes Weib
entwenden, der aus dem Zweikampfe unrühmlich
fliehen, der sogleich wieder in den Armen der Helena
seinen Ort suchen konnte -- das ist Paris! Wir
lassen den weichlichen Diener der Venus in den Ar-
men der geraubten Gattinn, und kehren mit Ver-
achtung seiner zu der Armee zurück, wo man ihn
sucht, und nicht findet! wo Menelaus wohl nicht
glaubt, daß er da sei, wo er ist. Homer schließt
seinen Gesang.

Wenn Homer für unsre Zeiten gesungen; frei-
lich! so hätte er sich aus dem anständigen: non
probo!
eines ehrbaren Kunstrichters, was machen,
oder nicht machen sollen; was geht es mich an?
Aber jetzt, zu seiner Zeit auf eine so simple unschul-
dige Art, als ers erzählet: nein! da finde ich keine
Spur von Anstößigen, Unehrbaren, Schamlosen:
nichts, was die Ehrbarkeit seiner Zuhörer verletzt,
und die Wangen seiner epischen Muse mit Scham-
röthe färben darf: nichts, als einen sehr charakte-
risirenden Zug des Paris. Soll ich ihn in galante
Busenversuche eines französischen Abbe, soll ich
das Betragen der Helena in züchtige Agacerien ei-

ner
a) Daß ich nicht der Erste bin, der das in Homer fin-
det, mag Maximas Tyrius zeigen, der in seiner
zweiten Rede von der. Sokratischen Liebe die Liebes-
episoden in Homer genau und charaktermäßig claßi-
ficirt.

Zweites Waͤldchen.
malend! a) — Der wohlluͤſtige Ehebrecher ſteht
uns vor Augen, der Menelaus ſein ſchoͤnes Weib
entwenden, der aus dem Zweikampfe unruͤhmlich
fliehen, der ſogleich wieder in den Armen der Helena
ſeinen Ort ſuchen konnte — das iſt Paris! Wir
laſſen den weichlichen Diener der Venus in den Ar-
men der geraubten Gattinn, und kehren mit Ver-
achtung ſeiner zu der Armee zuruͤck, wo man ihn
ſucht, und nicht findet! wo Menelaus wohl nicht
glaubt, daß er da ſei, wo er iſt. Homer ſchließt
ſeinen Geſang.

Wenn Homer fuͤr unſre Zeiten geſungen; frei-
lich! ſo haͤtte er ſich aus dem anſtaͤndigen: non
probo!
eines ehrbaren Kunſtrichters, was machen,
oder nicht machen ſollen; was geht es mich an?
Aber jetzt, zu ſeiner Zeit auf eine ſo ſimple unſchul-
dige Art, als ers erzaͤhlet: nein! da finde ich keine
Spur von Anſtoͤßigen, Unehrbaren, Schamloſen:
nichts, was die Ehrbarkeit ſeiner Zuhoͤrer verletzt,
und die Wangen ſeiner epiſchen Muſe mit Scham-
roͤthe faͤrben darf: nichts, als einen ſehr charakte-
riſirenden Zug des Paris. Soll ich ihn in galante
Buſenverſuche eines franzoͤſiſchen Abbé, ſoll ich
das Betragen der Helena in zuͤchtige Agacerien ei-

ner
a) Daß ich nicht der Erſte bin, der das in Homer fin-
det, mag Maximas Tyrius zeigen, der in ſeiner
zweiten Rede von der. Sokratiſchen Liebe die Liebes-
epiſoden in Homer genau und charaktermaͤßig claßi-
ficirt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0149" n="143"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
malend! <note place="foot" n="a)">Daß ich nicht der Er&#x017F;te bin, der das in Homer fin-<lb/>
det, mag <hi rendition="#fr">Maximas Tyrius</hi> zeigen, der in &#x017F;einer<lb/>
zweiten Rede von der. Sokrati&#x017F;chen Liebe die Liebes-<lb/>
epi&#x017F;oden in Homer genau und charakterma&#x0364;ßig claßi-<lb/>
ficirt.</note> &#x2014; Der wohllu&#x0364;&#x017F;tige Ehebrecher &#x017F;teht<lb/>
uns vor Augen, der Menelaus &#x017F;ein &#x017F;cho&#x0364;nes Weib<lb/>
entwenden, der aus dem Zweikampfe unru&#x0364;hmlich<lb/>
fliehen, der &#x017F;ogleich wieder in den Armen der Helena<lb/>
&#x017F;einen Ort &#x017F;uchen konnte &#x2014; das i&#x017F;t Paris! Wir<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en den weichlichen Diener der Venus in den Ar-<lb/>
men der geraubten Gattinn, und kehren mit Ver-<lb/>
achtung &#x017F;einer zu der Armee zuru&#x0364;ck, wo man ihn<lb/>
&#x017F;ucht, und nicht findet! wo Menelaus wohl nicht<lb/>
glaubt, daß er da &#x017F;ei, wo er i&#x017F;t. Homer &#x017F;chließt<lb/>
&#x017F;einen Ge&#x017F;ang.</p><lb/>
          <p>Wenn Homer fu&#x0364;r un&#x017F;re Zeiten ge&#x017F;ungen; frei-<lb/>
lich! &#x017F;o ha&#x0364;tte er &#x017F;ich aus dem an&#x017F;ta&#x0364;ndigen: <hi rendition="#aq">non<lb/>
probo!</hi> eines ehrbaren Kun&#x017F;trichters, was machen,<lb/>
oder nicht machen &#x017F;ollen; was geht es mich an?<lb/>
Aber jetzt, zu &#x017F;einer Zeit auf eine &#x017F;o &#x017F;imple un&#x017F;chul-<lb/>
dige Art, als ers erza&#x0364;hlet: nein! da finde ich keine<lb/>
Spur von An&#x017F;to&#x0364;ßigen, Unehrbaren, Schamlo&#x017F;en:<lb/>
nichts, was die Ehrbarkeit &#x017F;einer Zuho&#x0364;rer verletzt,<lb/>
und die Wangen &#x017F;einer epi&#x017F;chen Mu&#x017F;e mit Scham-<lb/>
ro&#x0364;the fa&#x0364;rben darf: nichts, als einen &#x017F;ehr charakte-<lb/>
ri&#x017F;irenden Zug des Paris. Soll ich ihn in galante<lb/>
Bu&#x017F;enver&#x017F;uche eines franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Abbé, &#x017F;oll ich<lb/>
das Betragen der Helena in zu&#x0364;chtige Agacerien ei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ner</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0149] Zweites Waͤldchen. malend! a) — Der wohlluͤſtige Ehebrecher ſteht uns vor Augen, der Menelaus ſein ſchoͤnes Weib entwenden, der aus dem Zweikampfe unruͤhmlich fliehen, der ſogleich wieder in den Armen der Helena ſeinen Ort ſuchen konnte — das iſt Paris! Wir laſſen den weichlichen Diener der Venus in den Ar- men der geraubten Gattinn, und kehren mit Ver- achtung ſeiner zu der Armee zuruͤck, wo man ihn ſucht, und nicht findet! wo Menelaus wohl nicht glaubt, daß er da ſei, wo er iſt. Homer ſchließt ſeinen Geſang. Wenn Homer fuͤr unſre Zeiten geſungen; frei- lich! ſo haͤtte er ſich aus dem anſtaͤndigen: non probo! eines ehrbaren Kunſtrichters, was machen, oder nicht machen ſollen; was geht es mich an? Aber jetzt, zu ſeiner Zeit auf eine ſo ſimple unſchul- dige Art, als ers erzaͤhlet: nein! da finde ich keine Spur von Anſtoͤßigen, Unehrbaren, Schamloſen: nichts, was die Ehrbarkeit ſeiner Zuhoͤrer verletzt, und die Wangen ſeiner epiſchen Muſe mit Scham- roͤthe faͤrben darf: nichts, als einen ſehr charakte- riſirenden Zug des Paris. Soll ich ihn in galante Buſenverſuche eines franzoͤſiſchen Abbé, ſoll ich das Betragen der Helena in zuͤchtige Agacerien ei- ner a) Daß ich nicht der Erſte bin, der das in Homer fin- det, mag Maximas Tyrius zeigen, der in ſeiner zweiten Rede von der. Sokratiſchen Liebe die Liebes- epiſoden in Homer genau und charaktermaͤßig claßi- ficirt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/149
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/149>, abgerufen am 24.11.2024.