Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. wenigstens Freiheit fanden, mit diesem und jenemStabe des Aberglaubens poetische Wunder zu thun, warum nicht? Das Heldengedicht eines Mönchs aus Padua auf seinen heiligen Antonius, oder eines Mayländers auf seinen heil. Karl Borromäus sei immer den Legenden seines Ordens, seiner Stadt, seiner Zeit, seiner eignen Erziehung angemessen: denn anders kann der ehrwürdige Pater nicht dich- ten. Und wo werde ich an einen Riesen, an ein Geschöpf seines Jahrhunderts, mit einem Zwerg- maaße meiner Zeit, mit einem kritischen Regelchen, hinzutreten, ohne daß mich seine Größe nicht be- schäme! Also blos von einem in der Religion erleuch- geglaubt, E 5
Zweites Waͤldchen. wenigſtens Freiheit fanden, mit dieſem und jenemStabe des Aberglaubens poetiſche Wunder zu thun, warum nicht? Das Heldengedicht eines Moͤnchs aus Padua auf ſeinen heiligen Antonius, oder eines Maylaͤnders auf ſeinen heil. Karl Borromaͤus ſei immer den Legenden ſeines Ordens, ſeiner Stadt, ſeiner Zeit, ſeiner eignen Erziehung angemeſſen: denn anders kann der ehrwuͤrdige Pater nicht dich- ten. Und wo werde ich an einen Rieſen, an ein Geſchoͤpf ſeines Jahrhunderts, mit einem Zwerg- maaße meiner Zeit, mit einem kritiſchen Regelchen, hinzutreten, ohne daß mich ſeine Groͤße nicht be- ſchaͤme! Alſo blos von einem in der Religion erleuch- geglaubt, E 5
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Zweites Waͤldchen.
wenigſtens Freiheit fanden, mit dieſem und jenem
Stabe des Aberglaubens poetiſche Wunder zu thun,
warum nicht? Das Heldengedicht eines Moͤnchs
aus Padua auf ſeinen heiligen Antonius, oder eines
Maylaͤnders auf ſeinen heil. Karl Borromaͤus
ſei immer den Legenden ſeines Ordens, ſeiner Stadt,
ſeiner Zeit, ſeiner eignen Erziehung angemeſſen:
denn anders kann der ehrwuͤrdige Pater nicht dich-
ten. Und wo werde ich an einen Rieſen, an ein
Geſchoͤpf ſeines Jahrhunderts, mit einem Zwerg-
maaße meiner Zeit, mit einem kritiſchen Regelchen,
hinzutreten, ohne daß mich ſeine Groͤße nicht be-
ſchaͤme!
Alſo blos von einem in der Religion erleuch-
teten Zeitpunkte: und wo weiß der Kritikus,
wenn dieſer Zeitpunkt voll Licht, oder nur voll Blen-
deſchein des Lichts iſt? wo ſoll ers, als Kritikus,
wiſſen? Das mag der Gottesgelehrte, der Polemi-
kus entſcheiden; nicht der poetiſche Kunſtrichter.
Der Dichter nimmt den herrſchenden Religionsge-
ſchmack, oder beſſer, ſein eignes Religionsgefuͤhl, wie
er dazu gebildet worden, ſeinen eignen Horizont
von Religionsausſichten, und dichtet. Und ſo
muß der Kritikus ihn richten. Nicht daß er abſo-
lute Wahrheit ſuche, nicht daß er frage, ob dieſe
und jene Religionsvorſtellung auch rechtglaͤubig ge-
nau, exegetiſch richtig, philoſophiſch erwieſen; ſon-
dern ob ſie wahrſcheinlich ſey, ob ſie koͤnne poetiſch
geglaubt,
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