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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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Die Schlange fleuch! ruft ein anderer,
der nichts geschwinder will, als mir die Schlan-
ge zeigen; fliehen werd ich von selbst, so bald
ich von ihr höre. -- Er hat mir das Geld
gestohlen; und kein anderer; Er hat mir
das Geld gestohlen; ich weiß es gewiß; das
Geld
hat er mir gestohlen (und keinen Ring);
Mir hat er das Geld gestohlen, und keinem
andern; gestohlen hat er mir das Geld (nicht
abgeborgt): wie viel Veränderung macht hier
nicht die Jnversion in der Wendung des Ge-
dankens.

Entspringt also die Jnversion von der sinn-
lichen Aufmerksamkeit: so muß bei einer noch
ganz sinnlichen Nation ihre Sprache unregel-
mäßig und voll Veränderungen seyn: wie die
Gegenstände ins Auge fallen, so saget sie die-
selbe; eine Grammatikalische Construction ist
noch nicht eingeführt. So sind noch jetzt die
Sprachen der Wilden, und alle alte Spra-
chen, die ursprünglich sind, und das Geprä-
ge der ersten sinnlichen Lebensart führen, sind
voll Jnversionen. Geberden, und Accent
kommt zu Hülfe, um dies Chaos von Worten
verständlich zu machen. -- Noch immer spricht

man

Die Schlange fleuch! ruft ein anderer,
der nichts geſchwinder will, als mir die Schlan-
ge zeigen; fliehen werd ich von ſelbſt, ſo bald
ich von ihr hoͤre. — Er hat mir das Geld
geſtohlen; und kein anderer; Er hat mir
das Geld geſtohlen; ich weiß es gewiß; das
Geld
hat er mir geſtohlen (und keinen Ring);
Mir hat er das Geld geſtohlen, und keinem
andern; geſtohlen hat er mir das Geld (nicht
abgeborgt): wie viel Veraͤnderung macht hier
nicht die Jnverſion in der Wendung des Ge-
dankens.

Entſpringt alſo die Jnverſion von der ſinn-
lichen Aufmerkſamkeit: ſo muß bei einer noch
ganz ſinnlichen Nation ihre Sprache unregel-
maͤßig und voll Veraͤnderungen ſeyn: wie die
Gegenſtaͤnde ins Auge fallen, ſo ſaget ſie die-
ſelbe; eine Grammatikaliſche Conſtruction iſt
noch nicht eingefuͤhrt. So ſind noch jetzt die
Sprachen der Wilden, und alle alte Spra-
chen, die urſpruͤnglich ſind, und das Gepraͤ-
ge der erſten ſinnlichen Lebensart fuͤhren, ſind
voll Jnverſionen. Geberden, und Accent
kommt zu Huͤlfe, um dies Chaos von Worten
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[98/0102] Die Schlange fleuch! ruft ein anderer, der nichts geſchwinder will, als mir die Schlan- ge zeigen; fliehen werd ich von ſelbſt, ſo bald ich von ihr hoͤre. — Er hat mir das Geld geſtohlen; und kein anderer; Er hat mir das Geld geſtohlen; ich weiß es gewiß; das Geld hat er mir geſtohlen (und keinen Ring); Mir hat er das Geld geſtohlen, und keinem andern; geſtohlen hat er mir das Geld (nicht abgeborgt): wie viel Veraͤnderung macht hier nicht die Jnverſion in der Wendung des Ge- dankens. Entſpringt alſo die Jnverſion von der ſinn- lichen Aufmerkſamkeit: ſo muß bei einer noch ganz ſinnlichen Nation ihre Sprache unregel- maͤßig und voll Veraͤnderungen ſeyn: wie die Gegenſtaͤnde ins Auge fallen, ſo ſaget ſie die- ſelbe; eine Grammatikaliſche Conſtruction iſt noch nicht eingefuͤhrt. So ſind noch jetzt die Sprachen der Wilden, und alle alte Spra- chen, die urſpruͤnglich ſind, und das Gepraͤ- ge der erſten ſinnlichen Lebensart fuͤhren, ſind voll Jnverſionen. Geberden, und Accent kommt zu Huͤlfe, um dies Chaos von Worten verſtaͤndlich zu machen. — Noch immer ſpricht man

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/102>, abgerufen am 21.11.2024.