Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

"zu seyn. Dies hat er so ausgelegt, als
"wollte der Poet, man sollte die Geringern blos
"mit Schlägen ziehen; allein sezt Xenophon
"dazu, das hat Sokrates gar nicht gemeinet:
"sondern etc."* Und was folgt hieraus?
Daß Homer Lehren wider den Staat enthiel-
te? Gar nicht! sondern daß Sokrates seine
Lehren wider den Staat aus einem bei dem
Volk so viel geltenden Dichter zu bestätigen
suche? Sagt der Ankläger, daß Homer die
geringern und ärmern Leute zu schlagen ra-
the? Nicht! sondern Homer mache dieses
den geringern und armen Leuten glaubend!

Diesen geringern und ärmern Leuten
konnte ja ein Sokrates leicht was glaubend
machen, und Melitus muste als ein Vereh-
rer des Homers eben dagegen am meisten
eifern, daß Sokrates, seine Lieblinge, die
Dichter so mißbrauchte. Die aufgebrachten
Richter verurtheilten, ohne daß sie im Homer
nachsahen, ob dies der wahre Verstand sey
(das that hier ja nichts zur Sache); sondern
weil er den Staat störte: wenn sie auch Leu-
te gewesen wären, mit denen man in der Ju-

gend
* Jm erst. Buch der Denkio. Reden.
T 5

„zu ſeyn. Dies hat er ſo ausgelegt, als
„wollte der Poet, man ſollte die Geringern blos
„mit Schlaͤgen ziehen; allein ſezt Xenophon
„dazu, das hat Sokrates gar nicht gemeinet:
„ſondern ꝛc.„* Und was folgt hieraus?
Daß Homer Lehren wider den Staat enthiel-
te? Gar nicht! ſondern daß Sokrates ſeine
Lehren wider den Staat aus einem bei dem
Volk ſo viel geltenden Dichter zu beſtaͤtigen
ſuche? Sagt der Anklaͤger, daß Homer die
geringern und aͤrmern Leute zu ſchlagen ra-
the? Nicht! ſondern Homer mache dieſes
den geringern und armen Leuten glaubend!

Dieſen geringern und aͤrmern Leuten
konnte ja ein Sokrates leicht was glaubend
machen, und Melitus muſte als ein Vereh-
rer des Homers eben dagegen am meiſten
eifern, daß Sokrates, ſeine Lieblinge, die
Dichter ſo mißbrauchte. Die aufgebrachten
Richter verurtheilten, ohne daß ſie im Homer
nachſahen, ob dies der wahre Verſtand ſey
(das that hier ja nichts zur Sache); ſondern
weil er den Staat ſtoͤrte: wenn ſie auch Leu-
te geweſen waͤren, mit denen man in der Ju-

gend
* Jm erſt. Buch der Denkio. Reden.
T 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0117" n="285"/>
&#x201E;zu &#x017F;eyn. Dies hat er &#x017F;o ausgelegt, als<lb/>
&#x201E;wollte der Poet, man &#x017F;ollte die Geringern blos<lb/>
&#x201E;mit Schla&#x0364;gen ziehen; allein &#x017F;ezt Xenophon<lb/>
&#x201E;dazu, das hat Sokrates gar nicht gemeinet:<lb/>
&#x201E;&#x017F;ondern &#xA75B;c.&#x201E;<note place="foot" n="*">Jm er&#x017F;t. Buch der Denkio. Reden.</note> Und was folgt hieraus?<lb/>
Daß <hi rendition="#fr">Homer</hi> Lehren wider den Staat enthiel-<lb/>
te? Gar nicht! &#x017F;ondern daß Sokrates &#x017F;eine<lb/>
Lehren wider den Staat aus einem bei dem<lb/>
Volk &#x017F;o viel geltenden Dichter zu be&#x017F;ta&#x0364;tigen<lb/>
&#x017F;uche? Sagt der Ankla&#x0364;ger, daß Homer die<lb/>
geringern und a&#x0364;rmern Leute zu &#x017F;chlagen ra-<lb/>
the? Nicht! &#x017F;ondern Homer mache die&#x017F;es<lb/>
den geringern und armen Leuten glaubend!</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;en geringern und a&#x0364;rmern Leuten<lb/>
konnte ja ein Sokrates leicht was glaubend<lb/>
machen, und <hi rendition="#fr">Melitus</hi> mu&#x017F;te als ein Vereh-<lb/>
rer des <hi rendition="#fr">Homers</hi> eben dagegen am mei&#x017F;ten<lb/>
eifern, daß <hi rendition="#fr">Sokrates,</hi> &#x017F;eine Lieblinge, die<lb/>
Dichter &#x017F;o mißbrauchte. Die aufgebrachten<lb/>
Richter verurtheilten, ohne daß &#x017F;ie im Homer<lb/>
nach&#x017F;ahen, ob dies der wahre Ver&#x017F;tand &#x017F;ey<lb/>
(das that hier ja nichts zur Sache); &#x017F;ondern<lb/>
weil er den Staat &#x017F;to&#x0364;rte: wenn &#x017F;ie auch Leu-<lb/>
te gewe&#x017F;en wa&#x0364;ren, mit denen man in der Ju-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">T 5</fw><fw place="bottom" type="catch">gend</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285/0117] „zu ſeyn. Dies hat er ſo ausgelegt, als „wollte der Poet, man ſollte die Geringern blos „mit Schlaͤgen ziehen; allein ſezt Xenophon „dazu, das hat Sokrates gar nicht gemeinet: „ſondern ꝛc.„ * Und was folgt hieraus? Daß Homer Lehren wider den Staat enthiel- te? Gar nicht! ſondern daß Sokrates ſeine Lehren wider den Staat aus einem bei dem Volk ſo viel geltenden Dichter zu beſtaͤtigen ſuche? Sagt der Anklaͤger, daß Homer die geringern und aͤrmern Leute zu ſchlagen ra- the? Nicht! ſondern Homer mache dieſes den geringern und armen Leuten glaubend! Dieſen geringern und aͤrmern Leuten konnte ja ein Sokrates leicht was glaubend machen, und Melitus muſte als ein Vereh- rer des Homers eben dagegen am meiſten eifern, daß Sokrates, ſeine Lieblinge, die Dichter ſo mißbrauchte. Die aufgebrachten Richter verurtheilten, ohne daß ſie im Homer nachſahen, ob dies der wahre Verſtand ſey (das that hier ja nichts zur Sache); ſondern weil er den Staat ſtoͤrte: wenn ſie auch Leu- te geweſen waͤren, mit denen man in der Ju- gend * Jm erſt. Buch der Denkio. Reden. T 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/117
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/117>, abgerufen am 11.12.2024.