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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Wer bricht je in diese Worte aus, der,
sich selbst entrissen, empfindet und sieht! --
Wenn man eine Sammlung unnatürlicher
Ausrufungen lesen will: so hat man sie hier
zusammen: bei Krieg und Frieden, bei Hel-
den und Geschichten! -- Nein! immer bleibt
es doch wahr: das Feuer der Alten brennt:
der Glanz der Neuern blendet höchstens, oder
betriegt im Dunkeln, wie kaltes todtes, aber
leuchtendes Holz.

"Alle vortrefliche Dichter singen nicht
"durch Künsteley: sondern durch göttliche
"Begeisterung; wie die Corybanten nicht mit
"kalter Seele tanzen: so singen sie auch nicht
"mit kalter Seele; sondern so bald sie in
"die verschlungenen Labyrinthe der Harmonie
"gerathen: so rasen sie, schwärmen gleich
"den unsinnigen Bacchanten, die in ihrer Be-
"geisterung Milch und Honig aus Bächen
"trinken -- Auch die Dichter schöpfen aus
"Honigquellen, und brechen, wie die Bienen
"ihren Honig aus Blumen saugen, ihre Ge-
"sänge von den grünenden Hügeln der Musen.
"Wahrlich, ein Dichter ist ein flüchtiges, ein
"heiliges Geschöpf, das nicht eher singen

"kann,
Y 3

Wer bricht je in dieſe Worte aus, der,
ſich ſelbſt entriſſen, empfindet und ſieht! —
Wenn man eine Sammlung unnatuͤrlicher
Ausrufungen leſen will: ſo hat man ſie hier
zuſammen: bei Krieg und Frieden, bei Hel-
den und Geſchichten! — Nein! immer bleibt
es doch wahr: das Feuer der Alten brennt:
der Glanz der Neuern blendet hoͤchſtens, oder
betriegt im Dunkeln, wie kaltes todtes, aber
leuchtendes Holz.

„Alle vortrefliche Dichter ſingen nicht
„durch Kuͤnſteley: ſondern durch goͤttliche
„Begeiſterung; wie die Corybanten nicht mit
„kalter Seele tanzen: ſo ſingen ſie auch nicht
„mit kalter Seele; ſondern ſo bald ſie in
„die verſchlungenen Labyrinthe der Harmonie
„gerathen: ſo raſen ſie, ſchwaͤrmen gleich
„den unſinnigen Bacchanten, die in ihrer Be-
„geiſterung Milch und Honig aus Baͤchen
„trinken — Auch die Dichter ſchoͤpfen aus
„Honigquellen, und brechen, wie die Bienen
„ihren Honig aus Blumen ſaugen, ihre Ge-
„ſaͤnge von den gruͤnenden Huͤgeln der Muſen.
„Wahrlich, ein Dichter iſt ein fluͤchtiges, ein
„heiliges Geſchoͤpf, das nicht eher ſingen

„kann,
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[329/0161] Wer bricht je in dieſe Worte aus, der, ſich ſelbſt entriſſen, empfindet und ſieht! — Wenn man eine Sammlung unnatuͤrlicher Ausrufungen leſen will: ſo hat man ſie hier zuſammen: bei Krieg und Frieden, bei Hel- den und Geſchichten! — Nein! immer bleibt es doch wahr: das Feuer der Alten brennt: der Glanz der Neuern blendet hoͤchſtens, oder betriegt im Dunkeln, wie kaltes todtes, aber leuchtendes Holz. „Alle vortrefliche Dichter ſingen nicht „durch Kuͤnſteley: ſondern durch goͤttliche „Begeiſterung; wie die Corybanten nicht mit „kalter Seele tanzen: ſo ſingen ſie auch nicht „mit kalter Seele; ſondern ſo bald ſie in „die verſchlungenen Labyrinthe der Harmonie „gerathen: ſo raſen ſie, ſchwaͤrmen gleich „den unſinnigen Bacchanten, die in ihrer Be- „geiſterung Milch und Honig aus Baͤchen „trinken — Auch die Dichter ſchoͤpfen aus „Honigquellen, und brechen, wie die Bienen „ihren Honig aus Blumen ſaugen, ihre Ge- „ſaͤnge von den gruͤnenden Huͤgeln der Muſen. „Wahrlich, ein Dichter iſt ein fluͤchtiges, ein „heiliges Geſchoͤpf, das nicht eher ſingen „kann, Y 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/161>, abgerufen am 21.11.2024.