Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

und schlechte Porträte sind eher, als Jdeale,
als hochst verschonerte Jdeale; so müssen auch
die erste Landgedichte gewesen seyn. Könnte
dies nicht eine Ursache seyn, (wenn gegen den
Eigensinn der Zeit noch muthmaßliche Ursa-
chen gelten,) warum vor Theokrit alle Land-
dichter verloren gegangen sind, warum selbst
die meisten Gedichte seines Lehrers, Bions,
verloren gegangen sind: weil sie vielleicht die
Natur noch zu gemein porträtirt haben? Nur
Theokrit, ein später Dichter, wurde der er-
ste Anfänger einer goldnen Epoche, weil er
eben den Zeitpunkt in den Landgedichten er-
reichte, daß seine verschönerte Natur auch fei-
nen Zeitaltern gefallen konnte.

Aber welche Natur hat er verschonert?
Beschäftigungen? Oder Empfindungen
und Leidenschaften? Der Anfang der Dicht-
kunst ist wahrscheinlich eher von Leidenschaf-
ten, als bloßen Beschäftigungen gewesen;
diese waren theils nicht werth, theils nicht hin-
reichend gnug, um Dichterei hervorzubrin-
gen. Dies bestätigen die ältesten Beispiele,
und die Känntniß der ersten Zeiten noch mehr.

Erst

und ſchlechte Portraͤte ſind eher, als Jdeale,
als ho̊chſt verſcho̊nerte Jdeale; ſo muͤſſen auch
die erſte Landgedichte geweſen ſeyn. Koͤnnte
dies nicht eine Urſache ſeyn, (wenn gegen den
Eigenſinn der Zeit noch muthmaßliche Urſa-
chen gelten,) warum vor Theokrit alle Land-
dichter verloren gegangen ſind, warum ſelbſt
die meiſten Gedichte ſeines Lehrers, Bions,
verloren gegangen ſind: weil ſie vielleicht die
Natur noch zu gemein portraͤtirt haben? Nur
Theokrit, ein ſpaͤter Dichter, wurde der er-
ſte Anfaͤnger einer goldnen Epoche, weil er
eben den Zeitpunkt in den Landgedichten er-
reichte, daß ſeine verſchoͤnerte Natur auch fei-
nen Zeitaltern gefallen konnte.

Aber welche Natur hat er verſcho̊nert?
Beſchaͤftigungen? Oder Empfindungen
und Leidenſchaften? Der Anfang der Dicht-
kunſt iſt wahrſcheinlich eher von Leidenſchaf-
ten, als bloßen Beſchaͤftigungen geweſen;
dieſe waren theils nicht werth, theils nicht hin-
reichend gnug, um Dichterei hervorzubrin-
gen. Dies beſtaͤtigen die aͤlteſten Beiſpiele,
und die Kaͤnntniß der erſten Zeiten noch mehr.

Erſt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0185" n="353"/>
und &#x017F;chlechte Portra&#x0364;te &#x017F;ind eher, als Jdeale,<lb/>
als ho&#x030A;ch&#x017F;t ver&#x017F;cho&#x030A;nerte Jdeale; &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en auch<lb/>
die er&#x017F;te Landgedichte gewe&#x017F;en &#x017F;eyn. Ko&#x0364;nnte<lb/>
dies nicht eine Ur&#x017F;ache &#x017F;eyn, <hi rendition="#i">(</hi>wenn gegen den<lb/>
Eigen&#x017F;inn der Zeit noch muthmaßliche Ur&#x017F;a-<lb/>
chen gelten,) warum vor <hi rendition="#fr">Theokrit</hi> alle Land-<lb/>
dichter verloren gegangen &#x017F;ind, warum &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die mei&#x017F;ten Gedichte &#x017F;eines Lehrers, <hi rendition="#fr">Bions,</hi><lb/>
verloren gegangen &#x017F;ind: weil &#x017F;ie vielleicht die<lb/>
Natur noch zu gemein portra&#x0364;tirt haben? Nur<lb/>
Theokrit, ein &#x017F;pa&#x0364;ter Dichter, wurde der er-<lb/>
&#x017F;te Anfa&#x0364;nger einer goldnen Epoche, weil er<lb/>
eben den Zeitpunkt in den Landgedichten er-<lb/>
reichte, daß &#x017F;eine ver&#x017F;cho&#x0364;nerte Natur auch fei-<lb/>
nen Zeitaltern gefallen konnte.</p><lb/>
          <p>Aber welche Natur hat er ver&#x017F;cho&#x030A;nert?<lb/><hi rendition="#fr">Be&#x017F;cha&#x0364;ftigungen?</hi> Oder Empfindungen<lb/>
und Leiden&#x017F;chaften? Der Anfang der Dicht-<lb/>
kun&#x017F;t i&#x017F;t wahr&#x017F;cheinlich eher von Leiden&#x017F;chaf-<lb/>
ten, als bloßen <hi rendition="#fr">Be&#x017F;cha&#x0364;ftigungen</hi> gewe&#x017F;en;<lb/>
die&#x017F;e waren theils nicht werth, theils nicht hin-<lb/>
reichend gnug, um Dichterei hervorzubrin-<lb/>
gen. Dies be&#x017F;ta&#x0364;tigen die a&#x0364;lte&#x017F;ten Bei&#x017F;piele,<lb/>
und die Ka&#x0364;nntniß der er&#x017F;ten Zeiten noch mehr.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Er&#x017F;t</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[353/0185] und ſchlechte Portraͤte ſind eher, als Jdeale, als ho̊chſt verſcho̊nerte Jdeale; ſo muͤſſen auch die erſte Landgedichte geweſen ſeyn. Koͤnnte dies nicht eine Urſache ſeyn, (wenn gegen den Eigenſinn der Zeit noch muthmaßliche Urſa- chen gelten,) warum vor Theokrit alle Land- dichter verloren gegangen ſind, warum ſelbſt die meiſten Gedichte ſeines Lehrers, Bions, verloren gegangen ſind: weil ſie vielleicht die Natur noch zu gemein portraͤtirt haben? Nur Theokrit, ein ſpaͤter Dichter, wurde der er- ſte Anfaͤnger einer goldnen Epoche, weil er eben den Zeitpunkt in den Landgedichten er- reichte, daß ſeine verſchoͤnerte Natur auch fei- nen Zeitaltern gefallen konnte. Aber welche Natur hat er verſcho̊nert? Beſchaͤftigungen? Oder Empfindungen und Leidenſchaften? Der Anfang der Dicht- kunſt iſt wahrſcheinlich eher von Leidenſchaf- ten, als bloßen Beſchaͤftigungen geweſen; dieſe waren theils nicht werth, theils nicht hin- reichend gnug, um Dichterei hervorzubrin- gen. Dies beſtaͤtigen die aͤlteſten Beiſpiele, und die Kaͤnntniß der erſten Zeiten noch mehr. Erſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/185
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/185>, abgerufen am 21.11.2024.