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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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nahe zu treten, ist hierinn weit blöder. So
wie uns unser Wohlstand zu einer Schwäche
gebildet, die nur für uns schön läßt, so schmeck-
te vieles dem Geschmack der Griechen, was
uns zu stark ist. Seine Schäferleidenschaft
bleibt immer mehr schleichende Neigung: die
weiche, zärtliche Liebe, zu drücken, zu herzen,
zu küssen; dies ist die Farbe, die man über-
all sieht. Amyntas, ein Schäfer, der sich
des Baums erbarmte, läßt uns, wie Ram-
ler
* sagt, schließen "was wird nicht ein
"größerer Vorfall bei ihm würken?" so
schliessen, glaube ich, kann wan im Geßner
oft; aber es sehen? -- selten!

Theokrit schildert kleinere menschliche Ge-
sellschaften, nicht "wie sie der Weltweise in
"der Oekonomik Moralisch betrachtet **"
sondern wie er sie als Dichter von seiner Zeit
abstrahiren konnte, um finnlich zu reizen und
zu überreden. Seine Sittlichkeit ist also
auch nichts minder als Moralisch, sondern

Poli-
* s. seinen Batteux.
** s. Litter. Br. im angef. Theil.
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nahe zu treten, iſt hierinn weit bloͤder. So
wie uns unſer Wohlſtand zu einer Schwaͤche
gebildet, die nur fuͤr uns ſchoͤn laͤßt, ſo ſchmeck-
te vieles dem Geſchmack der Griechen, was
uns zu ſtark iſt. Seine Schaͤferleidenſchaft
bleibt immer mehr ſchleichende Neigung: die
weiche, zaͤrtliche Liebe, zu druͤcken, zu herzen,
zu kuͤſſen; dies iſt die Farbe, die man uͤber-
all ſieht. Amyntas, ein Schaͤfer, der ſich
des Baums erbarmte, laͤßt uns, wie Ram-
ler
* ſagt, ſchließen „was wird nicht ein
„groͤßerer Vorfall bei ihm wuͤrken?„ ſo
ſchlieſſen, glaube ich, kann wan im Geßner
oft; aber es ſehen? — ſelten!

Theokrit ſchildert kleinere menſchliche Ge-
ſellſchaften, nicht „wie ſie der Weltweiſe in
„der Oekonomik Moraliſch betrachtet **
ſondern wie er ſie als Dichter von ſeiner Zeit
abſtrahiren konnte, um finnlich zu reizen und
zu uͤberreden. Seine Sittlichkeit iſt alſo
auch nichts minder als Moraliſch, ſondern

Poli-
* ſ. ſeinen Batteux.
** ſ. Litter. Br. im angef. Theil.
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[361/0193] nahe zu treten, iſt hierinn weit bloͤder. So wie uns unſer Wohlſtand zu einer Schwaͤche gebildet, die nur fuͤr uns ſchoͤn laͤßt, ſo ſchmeck- te vieles dem Geſchmack der Griechen, was uns zu ſtark iſt. Seine Schaͤferleidenſchaft bleibt immer mehr ſchleichende Neigung: die weiche, zaͤrtliche Liebe, zu druͤcken, zu herzen, zu kuͤſſen; dies iſt die Farbe, die man uͤber- all ſieht. Amyntas, ein Schaͤfer, der ſich des Baums erbarmte, laͤßt uns, wie Ram- ler * ſagt, ſchließen „was wird nicht ein „groͤßerer Vorfall bei ihm wuͤrken?„ ſo ſchlieſſen, glaube ich, kann wan im Geßner oft; aber es ſehen? — ſelten! Theokrit ſchildert kleinere menſchliche Ge- ſellſchaften, nicht „wie ſie der Weltweiſe in „der Oekonomik Moraliſch betrachtet **„ ſondern wie er ſie als Dichter von ſeiner Zeit abſtrahiren konnte, um finnlich zu reizen und zu uͤberreden. Seine Sittlichkeit iſt alſo auch nichts minder als Moraliſch, ſondern Poli- * ſ. ſeinen Batteux. ** ſ. Litter. Br. im angef. Theil. A a 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/193>, abgerufen am 24.11.2024.