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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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fernt sind, daß wir fast niemals wahre
menschliche
Sitten, sondern Politische Le-
bensart
erblicken, müssen entweder einem
ganz abgezogenen Jdeal folgen, oder wenn
wir unsre Lebensart verfeinern wollen, Artig-
keit
malen. Das lezte that Fontenelle; er,
der in seiner Nation nichts erblickte, nichts
anders erblicken wollte, und endlich selbst an
alten Schäfern nichts anders erblicken konnte,
schilderte, was er sahe und sehen wollte: Ge-
wohnheiten
und Umgang und Artigkeit
und Hofmanieren, die endlich einem Franzo-
sen gefallen können, aber einem Griechen
verächtlich und ekelhaft seyn müssen. Geß-
ner,
der von den Griechen seine Weisheit er-
lernt hat und seiner Zeit sie bequemte, nahm
sich also ein gewisses Moralisches Jdeal,
und was verliert er dabei? --

Erstlich die Bestimmtheit der Charak-
tere. Seine Schäfer sind alle unschuldig,
nicht weil die Unschuld aus ihrer Bildung
folgt: sondern weil sie im Stande der Un-
schuld leben: lauter Schäferlarven, keine
Gesichter: Schäfer, nicht Menschen. Statt

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fernt ſind, daß wir faſt niemals wahre
menſchliche
Sitten, ſondern Politiſche Le-
bensart
erblicken, muͤſſen entweder einem
ganz abgezogenen Jdeal folgen, oder wenn
wir unſre Lebensart verfeinern wollen, Artig-
keit
malen. Das lezte that Fontenelle; er,
der in ſeiner Nation nichts erblickte, nichts
anders erblicken wollte, und endlich ſelbſt an
alten Schaͤfern nichts anders erblicken konnte,
ſchilderte, was er ſahe und ſehen wollte: Ge-
wohnheiten
und Umgang und Artigkeit
und Hofmanieren, die endlich einem Franzo-
ſen gefallen koͤnnen, aber einem Griechen
veraͤchtlich und ekelhaft ſeyn muͤſſen. Geß-
ner,
der von den Griechen ſeine Weisheit er-
lernt hat und ſeiner Zeit ſie bequemte, nahm
ſich alſo ein gewiſſes Moraliſches Jdeal,
und was verliert er dabei? —

Erſtlich die Beſtimmtheit der Charak-
tere. Seine Schaͤfer ſind alle unſchuldig,
nicht weil die Unſchuld aus ihrer Bildung
folgt: ſondern weil ſie im Stande der Un-
ſchuld leben: lauter Schaͤferlarven, keine
Geſichter: Schaͤfer, nicht Menſchen. Statt

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[363/0195] fernt ſind, daß wir faſt niemals wahre menſchliche Sitten, ſondern Politiſche Le- bensart erblicken, muͤſſen entweder einem ganz abgezogenen Jdeal folgen, oder wenn wir unſre Lebensart verfeinern wollen, Artig- keit malen. Das lezte that Fontenelle; er, der in ſeiner Nation nichts erblickte, nichts anders erblicken wollte, und endlich ſelbſt an alten Schaͤfern nichts anders erblicken konnte, ſchilderte, was er ſahe und ſehen wollte: Ge- wohnheiten und Umgang und Artigkeit und Hofmanieren, die endlich einem Franzo- ſen gefallen koͤnnen, aber einem Griechen veraͤchtlich und ekelhaft ſeyn muͤſſen. Geß- ner, der von den Griechen ſeine Weisheit er- lernt hat und ſeiner Zeit ſie bequemte, nahm ſich alſo ein gewiſſes Moraliſches Jdeal, und was verliert er dabei? — Erſtlich die Beſtimmtheit der Charak- tere. Seine Schaͤfer ſind alle unſchuldig, nicht weil die Unſchuld aus ihrer Bildung folgt: ſondern weil ſie im Stande der Un- ſchuld leben: lauter Schaͤferlarven, keine Geſichter: Schaͤfer, nicht Menſchen. Statt zu A a 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/195>, abgerufen am 24.11.2024.