lerliebste Schäfertändeleien, hier über ein fliegendes Rosenblatt, dort über einen zerbro- chenen Krug, hier über einen Baum, dort über das Schnäbeln der Tauben; hier redet der Vater Menalkas, hier der Sohn Myrtill über seinen schlummernden Vater; hier der neunzigjährige Palämon: hier der Liebhaber, dort die Schöne; immer aber derselbe Schä- fer, nur in einer andern Situation.
So möchte Geßner gegen Theokrit seyn. Jch weiß nicht, ob ich mit Rammler sa- gen kann: "er hat im wahren Geist des "Theokrits gedichtet. Man findet hier glei- "che Süßigkeit, gleiche Naivete, gleiche Un- "schuld in Sitten." Die Süßigkeit des Grie- chen ist noch ein klarer Wassertrank aus dem Pierischen Quell der Musen; der Trank des Deutschen ist verzuckert. Jenes Naivete ist eine Tochter der einsältigen Natur; die Naivete im Geßner ist von der Jdealischen Kunst geboren; jenes Unschuld redet in Sit- ten des Zeitalters; die Unschuld des lezren erstreckt sich bis auf die Gesinnungen, Nei- gungen, und Worte. Kurz! Theokrit malt
Leiden-
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lerliebſte Schaͤfertaͤndeleien, hier uͤber ein fliegendes Roſenblatt, dort uͤber einen zerbro- chenen Krug, hier uͤber einen Baum, dort uͤber das Schnaͤbeln der Tauben; hier redet der Vater Menalkas, hier der Sohn Myrtill uͤber ſeinen ſchlummernden Vater; hier der neunzigjaͤhrige Palaͤmon: hier der Liebhaber, dort die Schoͤne; immer aber derſelbe Schaͤ- fer, nur in einer andern Situation.
So moͤchte Geßner gegen Theokrit ſeyn. Jch weiß nicht, ob ich mit Rammler ſa- gen kann: „er hat im wahren Geiſt des „Theokrits gedichtet. Man findet hier glei- „che Suͤßigkeit, gleiche Naivete, gleiche Un- „ſchuld in Sitten.„ Die Suͤßigkeit des Grie- chen iſt noch ein klarer Waſſertrank aus dem Pieriſchen Quell der Muſen; der Trank des Deutſchen iſt verzuckert. Jenes Naivete iſt eine Tochter der einſaͤltigen Natur; die Naivete im Geßner iſt von der Jdealiſchen Kunſt geboren; jenes Unſchuld redet in Sit- ten des Zeitalters; die Unſchuld des lezren erſtreckt ſich bis auf die Geſinnungen, Nei- gungen, und Worte. Kurz! Theokrit malt
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lerliebſte Schaͤfertaͤndeleien, hier uͤber ein
fliegendes Roſenblatt, dort uͤber einen zerbro-
chenen Krug, hier uͤber einen Baum, dort
uͤber das Schnaͤbeln der Tauben; hier redet
der Vater Menalkas, hier der Sohn Myrtill
uͤber ſeinen ſchlummernden Vater; hier der
neunzigjaͤhrige Palaͤmon: hier der Liebhaber,
dort die Schoͤne; immer aber derſelbe Schaͤ-
fer, nur in einer andern Situation.
So moͤchte Geßner gegen Theokrit ſeyn.
Jch weiß nicht, ob ich mit Rammler ſa-
gen kann: „er hat im wahren Geiſt des
„Theokrits gedichtet. Man findet hier glei-
„che Suͤßigkeit, gleiche Naivete, gleiche Un-
„ſchuld in Sitten.„ Die Suͤßigkeit des Grie-
chen iſt noch ein klarer Waſſertrank aus dem
Pieriſchen Quell der Muſen; der Trank des
Deutſchen iſt verzuckert. Jenes Naivete
iſt eine Tochter der einſaͤltigen Natur; die
Naivete im Geßner iſt von der Jdealiſchen
Kunſt geboren; jenes Unſchuld redet in Sit-
ten des Zeitalters; die Unſchuld des lezren
erſtreckt ſich bis auf die Geſinnungen, Nei-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/197>, abgerufen am 16.02.2025.
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