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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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"Othem in meinem Bauch ängstiget: ich muß
"reden, daß ich Othem hole: ich muß meine
"Lippen aufthun und antworten!" So muß
es jeder großer Dichter seyn:

-- -- -- Poscere fata
Tempus erit. Deus! ecce Deus!

Nie ist die gesunde Einbildungskraft so
lebhaft, als die Erfahrung, und die ideale
Gegenwart der sinnlichen gleich.

Der Verfasser der Jüdischen Schäfer-
gedichte,
dem sonst Anlage zur Dichtkunst
nicht fehlt, hat meine Warnung durch seinen
unglücklichen Flug bestätigt. Diese sowohl,
als seine Schilderungen berühmter Ge-
genden des Alterthums,
haben lange nicht
die Gewalt, uns in diese Gegenden zu versezzen:
seine Einbildungskraft kämpft, um -- lauter
alte Züge zu wiederholen, Norden nach Orient
zu verpflanzen; alles, was er gesehen und ge-
lesen, aufzubieten; alle vier Welttheile zu
vereinigen, um -- etwas Unbestimmtes, und
Schlechtes zu liefern. Seine Einbildungs-
kraft und seine Sprache -- alles sichert ihn
vor dem Verdachte, beschnitten zu seyn: er
verläßt sein Land, um in der Fremde zu bet-

teln.

„Othem in meinem Bauch aͤngſtiget: ich muß
„reden, daß ich Othem hole: ich muß meine
„Lippen aufthun und antworten!„ So muß
es jeder großer Dichter ſeyn:

— — — Poſcere fata
Tempus erit. Deus! ecce Deus!

Nie iſt die geſunde Einbildungskraft ſo
lebhaft, als die Erfahrung, und die ideale
Gegenwart der ſinnlichen gleich.

Der Verfaſſer der Juͤdiſchen Schaͤfer-
gedichte,
dem ſonſt Anlage zur Dichtkunſt
nicht fehlt, hat meine Warnung durch ſeinen
ungluͤcklichen Flug beſtaͤtigt. Dieſe ſowohl,
als ſeine Schilderungen beruͤhmter Ge-
genden des Alterthums,
haben lange nicht
die Gewalt, uns in dieſe Gegenden zu verſezzen:
ſeine Einbildungskraft kaͤmpft, um — lauter
alte Zuͤge zu wiederholen, Norden nach Orient
zu verpflanzen; alles, was er geſehen und ge-
leſen, aufzubieten; alle vier Welttheile zu
vereinigen, um — etwas Unbeſtimmtes, und
Schlechtes zu liefern. Seine Einbildungs-
kraft und ſeine Sprache — alles ſichert ihn
vor dem Verdachte, beſchnitten zu ſeyn: er
verlaͤßt ſein Land, um in der Fremde zu bet-

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[210/0042] „Othem in meinem Bauch aͤngſtiget: ich muß „reden, daß ich Othem hole: ich muß meine „Lippen aufthun und antworten!„ So muß es jeder großer Dichter ſeyn: — — — Poſcere fata Tempus erit. Deus! ecce Deus! Nie iſt die geſunde Einbildungskraft ſo lebhaft, als die Erfahrung, und die ideale Gegenwart der ſinnlichen gleich. Der Verfaſſer der Juͤdiſchen Schaͤfer- gedichte, dem ſonſt Anlage zur Dichtkunſt nicht fehlt, hat meine Warnung durch ſeinen ungluͤcklichen Flug beſtaͤtigt. Dieſe ſowohl, als ſeine Schilderungen beruͤhmter Ge- genden des Alterthums, haben lange nicht die Gewalt, uns in dieſe Gegenden zu verſezzen: ſeine Einbildungskraft kaͤmpft, um — lauter alte Zuͤge zu wiederholen, Norden nach Orient zu verpflanzen; alles, was er geſehen und ge- leſen, aufzubieten; alle vier Welttheile zu vereinigen, um — etwas Unbeſtimmtes, und Schlechtes zu liefern. Seine Einbildungs- kraft und ſeine Sprache — alles ſichert ihn vor dem Verdachte, beſchnitten zu ſeyn: er verlaͤßt ſein Land, um in der Fremde zu bet- teln.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/42>, abgerufen am 21.11.2024.