Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Stellung der Ode nach gewissen Mustern
und Sazzungen. Könnte ichs doch laut
rufen, daß, so wie ein regelmäßiges aubi-
gnacsches
Theaterstück ein elendes Werk
seyn kann, dagegen ein Shakespearscher Lear
oder Hamlet ohne alle Anlage den Zweck
des Trauerspiels erreicht, dramatisch zu
rühren; so sey es ganz und gar nicht die
Hauptvollkommenheit einer Ode, so und
so, nach diesen und jenen Mustern, mit der
und jener Kunst angelegt zu seyn, daß sie die
schöne Einheit, und die schöne Unordnung, die
schöne Kürze und die schöne Methode habe,
und was dergleichen schöne Regeln mehr sind,
die nichts gelten, wenn man, um sie zu beob-
achten, schöne, künstliche und frostige Oden,
macht. Könnte ichs doch laut genug rufen,
daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah-
men, und ein schönes, regelmäßiges, künstli-
ches, und gelehrtes Gerippe seiner Oden dar-
zustellen, noch kein Horaz sey, wenn er nicht
den Zweck der Ode erreicht, uns den lebhaf-
ten Gedanken sinnlich darzustellen,
daß
jeder Zug der horazischen Mythologie, die es
für ihn thun konnte, aber für uns nichts zu

die-

Stellung der Ode nach gewiſſen Muſtern
und Sazzungen. Koͤnnte ichs doch laut
rufen, daß, ſo wie ein regelmaͤßiges aubi-
gnacſches
Theaterſtuͤck ein elendes Werk
ſeyn kann, dagegen ein Shakeſpearſcher Lear
oder Hamlet ohne alle Anlage den Zweck
des Trauerſpiels erreicht, dramatiſch zu
ruͤhren; ſo ſey es ganz und gar nicht die
Hauptvollkommenheit einer Ode, ſo und
ſo, nach dieſen und jenen Muſtern, mit der
und jener Kunſt angelegt zu ſeyn, daß ſie die
ſchoͤne Einheit, und die ſchoͤne Unordnung, die
ſchoͤne Kuͤrze und die ſchoͤne Methode habe,
und was dergleichen ſchoͤne Regeln mehr ſind,
die nichts gelten, wenn man, um ſie zu beob-
achten, ſchoͤne, kuͤnſtliche und froſtige Oden,
macht. Koͤnnte ichs doch laut genug rufen,
daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah-
men, und ein ſchoͤnes, regelmaͤßiges, kuͤnſtli-
ches, und gelehrtes Gerippe ſeiner Oden dar-
zuſtellen, noch kein Horaz ſey, wenn er nicht
den Zweck der Ode erreicht, uns den lebhaf-
ten Gedanken ſinnlich darzuſtellen,
daß
jeder Zug der horaziſchen Mythologie, die es
fuͤr ihn thun konnte, aber fuͤr uns nichts zu

die-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0152" n="144"/><hi rendition="#fr">Stellung</hi> der Ode nach <hi rendition="#fr">gewi&#x017F;&#x017F;en Mu&#x017F;tern</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">Sazzungen.</hi> Ko&#x0364;nnte ichs doch laut<lb/>
rufen, daß, &#x017F;o wie ein regelma&#x0364;ßiges <hi rendition="#fr">aubi-<lb/>
gnac&#x017F;ches</hi> Theater&#x017F;tu&#x0364;ck ein elendes Werk<lb/>
&#x017F;eyn kann, dagegen ein Shake&#x017F;pear&#x017F;cher Lear<lb/>
oder <hi rendition="#fr">Hamlet</hi> ohne alle Anlage den Zweck<lb/>
des Trauer&#x017F;piels erreicht, dramati&#x017F;ch zu<lb/>
ru&#x0364;hren; &#x017F;o &#x017F;ey es ganz und gar nicht die<lb/><hi rendition="#fr">Hauptvollkommenheit</hi> einer Ode, &#x017F;o und<lb/>
&#x017F;o, nach die&#x017F;en und jenen Mu&#x017F;tern, mit der<lb/>
und jener Kun&#x017F;t angelegt zu &#x017F;eyn, daß &#x017F;ie die<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ne Einheit, und die &#x017F;cho&#x0364;ne Unordnung, die<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ne Ku&#x0364;rze und die &#x017F;cho&#x0364;ne Methode habe,<lb/>
und was dergleichen &#x017F;cho&#x0364;ne Regeln mehr &#x017F;ind,<lb/>
die nichts gelten, wenn man, um &#x017F;ie zu beob-<lb/>
achten, &#x017F;cho&#x0364;ne, ku&#x0364;n&#x017F;tliche und fro&#x017F;tige Oden,<lb/>
macht. Ko&#x0364;nnte ichs doch laut genug rufen,<lb/>
daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah-<lb/>
men, und ein &#x017F;cho&#x0364;nes, regelma&#x0364;ßiges, ku&#x0364;n&#x017F;tli-<lb/>
ches, und gelehrtes Gerippe &#x017F;einer Oden dar-<lb/>
zu&#x017F;tellen, noch kein Horaz &#x017F;ey, wenn er nicht<lb/>
den Zweck der Ode erreicht, uns den <hi rendition="#fr">lebhaf-<lb/>
ten Gedanken &#x017F;innlich darzu&#x017F;tellen,</hi> daß<lb/>
jeder Zug der horazi&#x017F;chen Mythologie, die es<lb/>
fu&#x0364;r ihn thun konnte, aber fu&#x0364;r uns nichts zu<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die-</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0152] Stellung der Ode nach gewiſſen Muſtern und Sazzungen. Koͤnnte ichs doch laut rufen, daß, ſo wie ein regelmaͤßiges aubi- gnacſches Theaterſtuͤck ein elendes Werk ſeyn kann, dagegen ein Shakeſpearſcher Lear oder Hamlet ohne alle Anlage den Zweck des Trauerſpiels erreicht, dramatiſch zu ruͤhren; ſo ſey es ganz und gar nicht die Hauptvollkommenheit einer Ode, ſo und ſo, nach dieſen und jenen Muſtern, mit der und jener Kunſt angelegt zu ſeyn, daß ſie die ſchoͤne Einheit, und die ſchoͤne Unordnung, die ſchoͤne Kuͤrze und die ſchoͤne Methode habe, und was dergleichen ſchoͤne Regeln mehr ſind, die nichts gelten, wenn man, um ſie zu beob- achten, ſchoͤne, kuͤnſtliche und froſtige Oden, macht. Koͤnnte ichs doch laut genug rufen, daß wer Horaz nachahmt, um ihn nachzuah- men, und ein ſchoͤnes, regelmaͤßiges, kuͤnſtli- ches, und gelehrtes Gerippe ſeiner Oden dar- zuſtellen, noch kein Horaz ſey, wenn er nicht den Zweck der Ode erreicht, uns den lebhaf- ten Gedanken ſinnlich darzuſtellen, daß jeder Zug der horaziſchen Mythologie, die es fuͤr ihn thun konnte, aber fuͤr uns nichts zu die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/152
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/152>, abgerufen am 20.05.2024.