Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.Einbildung geschaffenes Unglück kann alsdenn alle sie nicht, als unter Uebungen, denn sie bor- gen fremde Situationen und leyern im Gan- zen ungefühlte Empfindungen, und zeichnen ungesehene Charaktere. Sie rauben also der Dichtkunst alle ihre Würde, eine Dollmetsche- rinn unsrer selbst zu seyn, wie sie es bei den Alten war, und verpachten unsre Talente in fremde Zeiten, Umstände und Personen. Da- durch gewöhnet man sich an jene erkünstelte Sprache der Leidenschaften, die mit Worten spielt, mit erdichteten Sentiments um sich wirft, und sich übt, von beiden Seiten Linsen durch ein Nadelöhr zu werfen. Wird aber so gar dieser Geschmack an Heroiden der herr- schende Geschmack einer Nation und einer Zeit: so verfällt man auf unwichtige Situationen, auf spielenden Witz, und zeichnet aus fernen Zeiten nach dem Geschmack seiner Nation Charaktere, die von Herzen schief, und nach aller Kunst albern sind. Sollte man dies nicht von der jetzt in Frankreich herrschenden Mode sagen, wo man schon den Adam an die Eva, und Kain an Mehala, und Philomele an Procris, und Procris an Philomele u. s. w. hat, Fragm. III S. Q
Einbildung geſchaffenes Ungluͤck kann alsdenn alle ſie nicht, als unter Uebungen, denn ſie bor- gen fremde Situationen und leyern im Gan- zen ungefuͤhlte Empfindungen, und zeichnen ungeſehene Charaktere. Sie rauben alſo der Dichtkunſt alle ihre Wuͤrde, eine Dollmetſche- rinn unſrer ſelbſt zu ſeyn, wie ſie es bei den Alten war, und verpachten unſre Talente in fremde Zeiten, Umſtaͤnde und Perſonen. Da- durch gewoͤhnet man ſich an jene erkuͤnſtelte Sprache der Leidenſchaften, die mit Worten ſpielt, mit erdichteten Sentiments um ſich wirft, und ſich uͤbt, von beiden Seiten Linſen durch ein Nadeloͤhr zu werfen. Wird aber ſo gar dieſer Geſchmack an Heroiden der herr- ſchende Geſchmack einer Nation und einer Zeit: ſo verfaͤllt man auf unwichtige Situationen, auf ſpielenden Witz, und zeichnet aus fernen Zeiten nach dem Geſchmack ſeiner Nation Charaktere, die von Herzen ſchief, und nach aller Kunſt albern ſind. Sollte man dies nicht von der jetzt in Frankreich herrſchenden Mode ſagen, wo man ſchon den Adam an die Eva, und Kain an Mehala, und Philomele an Procris, und Procris an Philomele u. ſ. w. hat, Fragm. III S. Q
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Einbildung geſchaffenes Ungluͤck kann alsdenn
in der Elegie angetroffen werden. Mitleiden
mit uns ſelbſt oder mit einem andern kann
darinn herrſchen. Es wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn,
alle
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* ſie nicht, als unter Uebungen, denn ſie bor-
gen fremde Situationen und leyern im Gan-
zen ungefuͤhlte Empfindungen, und zeichnen
ungeſehene Charaktere. Sie rauben alſo der
Dichtkunſt alle ihre Wuͤrde, eine Dollmetſche-
rinn unſrer ſelbſt zu ſeyn, wie ſie es bei den
Alten war, und verpachten unſre Talente in
fremde Zeiten, Umſtaͤnde und Perſonen. Da-
durch gewoͤhnet man ſich an jene erkuͤnſtelte
Sprache der Leidenſchaften, die mit Worten
ſpielt, mit erdichteten Sentiments um ſich
wirft, und ſich uͤbt, von beiden Seiten Linſen
durch ein Nadeloͤhr zu werfen. Wird aber
ſo gar dieſer Geſchmack an Heroiden der herr-
ſchende Geſchmack einer Nation und einer Zeit:
ſo verfaͤllt man auf unwichtige Situationen,
auf ſpielenden Witz, und zeichnet aus fernen
Zeiten nach dem Geſchmack ſeiner Nation
Charaktere, die von Herzen ſchief, und nach
aller Kunſt albern ſind. Sollte man dies
nicht von der jetzt in Frankreich herrſchenden
Mode ſagen, wo man ſchon den Adam an die
Eva, und Kain an Mehala, und Philomele an
Procris, und Procris an Philomele u. ſ. w.
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